Wirtschaftskanzleien vermelden neue Rekorde: Mehr Anwälte, mehr Umsatz
- Marcus Jung
Wirtschaftskanzleien vermelden wieder neue Rekorde. Der zweite Blick nährt aber Zweifel an der Nachhaltigkeit der Entwicklung.
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Trotz großer Zurückhaltung vieler Unternehmen bei ihren Neuinvestitionen, trotz hoher Energiepreise und einer Rezession im vergangenen Winter ist der Motor der Wirtschaftskanzleien hierzulande nicht ins Stottern geraten. Im abgelaufenen Geschäftsjahr 2023/24 erwirtschaftete der Kreis der 100 wirtschaftsstärksten Kanzleien in Deutschland insgesamt 9,6 Milliarden Euro und damit 7,7 Prozent mehr als im Vorjahr. Da das Marktsegment in den vergangenen Geschäftsjahren jweiels um rund 700 Millionen Euro zulegte, könnte die Gruppe aus internationalen Großkanzleien, breit aufgestellten Mittelstandsberatern und hoch spezialisierten Boutiquen im kommenden Geschäftsjahr 2025 die Zehn-Milliarden-Euro-Schwelle überschreiten.
Zur Einordnung: Der Jahresumsatz des gesamten deutschen Rechtsmarkts, zu dem auch Verbraucherkanzleien, zahlreiche Einzelanwälte, Notare sowie sogenannte Legal-Tech-Unternehmen gehören, wird auf 30 Milliarden Euro geschätzt.
Die Gruppe der Top-100 beschäftigte zuletzt mehr als 16.000 Anwältinnen und Anwälte auf Vollzeitbasis. Damit ist die Belegschaft der Wirtschaftskanzleien 2023/24 abermals um 8,6 Prozent gewachsen. Angesichts weiter sinkender Absolventenzahlen an den Hochschulen und laut geäußerter Nachwuchssorgen in Justiz, Verwaltung und Rechtsabteilungen ist dies ein deutliches Signal für ihre große Attraktivität als Arbeitsgeber unter jungen Juristen. Die Finzanz- und Beschäftigtenzahlen basieren auf den jährlichen Recherchen des Fachverlags Juve.
Aus dem Vergleich der Umsätze lassen sich mehrere Schlüsse ziehen, insbesondere wie die Spreizung zwischen den verschiedenen Kanzleitypen immer weiter voranschreitet. Allein die elf umsatzstärksten Einheiten erwirtschaften mehr als ein Drittel des gesamten Marktumsatzes. Wer in Deutschland zur Marktspitze gehören wollte, musste in diesem Jahr die Marke von 225 Millionen Euro knacken - was den amerikanischen Kanzleien Latham & Watkins und White & Case gelang.
Noch vor wenigen Jahren hätte dieser Wert für einen der vorderen Plätze im Ranking der umsatzstärksten Kanzleien gereicht. Im Mehrjahresverleich zeigen die Juve-Daten, wie sehr die Umsatzsprünge zugenommen haben: Allein zehn Kanzleien meldeten im vergangenen Geschäftsjahr, das für britische Einheiten erst am 30. April endete, ein zweistelliges Wachstum – darunter mit Freshfields (10,6 Prozent) und Hengeler Mueller (14,5 Prozent) zwei Sozietäten, die beim Gesamtumsatz mit ganz oben stehen. Aber der Abstand zwischen dem ersten und dem 20. Platz hat sich innerhalb von nur zehn Jahren um ein Drittel vergrößert.
Auf der ersten fünf Plätzen rangieren wie im Vorjahr Freshfields (530 Millionen Euro) vor CMS Hasche Sigle (401 Millionen Euro), Hengeler Mueller (355 Millionen Euro), Hogan Lovells (352 Millionen Euro) sowie Noerr (333 Millionen Euro) – wobei die nationale, unabhängige Kanzlei Hengeler sich nach einem Jahr wieder ihren "angestammten" dritten Platz zurückerobern konnte. Zudem gelang es der Sozietät, nach fast zehn Jahren beim Umsatz je Berufsträger wieder über die Schwelle von einer Million Euro zu kommen: Hengeler ist also gelungen für ihre Beratung in ihren bewährten Stärken Gesellschafts- und Bankrecht, Compliance sowie die Arbeit ihrer Prozessanwälte höhere Honorare einzufordern. Mit einem siebenstelligen Umsatz je Anwalt reiht sie sich in den elitären Kreis von amerikanischen Kanzleien ein, die bei internationalen M&A-Geschäften und Übernahmen beraten oder Unternehmen in internen Untersuchungen unterstützen. Zudem rufen diese Einheiten höhere Stundensätze auf als die meisten ihrer Wettbewerber.
Die Kennzahl ist ein wichtiger Indikator für die Produktivität in einer Kanzlei. Und in diesem Jahr entwickelte sie sich gegen den Rekordtrend ins Negative. Erstmals seit Jahren ist der Umsatz je Berufsträger rückläufig: Mit im Schnitt 583.000 Euro erwirtschafteten Anwälte knapp ein Prozent weniger als im Vorjahr. Eine Erklärung könnte der starke Personalausbau mit Nachwuchsjuristen sein, durch den der Wert verwässert wurde. In jüngerer Vergangenheit haben einige Kanzleien Abteilungen zur Abwehr von Massenklagen aufgebaut; in diesen sind auch Wirtschafts- und Projektjuristen eingebunden, für die Mandanten niedrigere Stundensätze zahlen. Weil Kanzleien zunehmend Künstliche Intelligenz (KI) für sich nutzen, dürften sich Effekte für das Honorarvolumen schon im laufenden Geschäftsjahr zeigen – und ob sich der Trend damit wieder umkehren lässt.
Abschließend ein Blick auf die internationale Entwicklung, wo Kirkland & Ellis – mittlerweile in Deutschland mit Büros in München und Frankfurt vertreten – seinen Ruf als "reichste Kanzlei der Welt" mit 7,2 Milliarden Dollar verteidigt. In die Phalanx der US-Kanzleien hat sich A&O Shearman nach vorne geschoben. Bei deren 3,5 Milliarden Dollar handelt es sich jedoch um den kumulierten Umsatz der Vorgängereinheiten Allen & Overy sowie Shearman & Sterling. Viele amerikanische Sozietäten profitierten im Jahr 2023 von einer Sonderjunktur: die Krise von Krypto-Handelsplattformen wie FTX oder Binance, die weite Kreise zog. Die Arbeit in Restrukturierungen, Vergleichen mit US-Behörden und Abwehr von Sammelklagen soll den auf diesem Feld tätigen Großkanzleien einen hohen dreistelligen Millionen-Dollar-Betrag an Honoraren eingebracht haben.
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