Leadership: Eine Frage der Macht

Autor*innen
Kirsten Ludowig
Person steht am oberen Ende einer Treppe und blickt in die Ferne.

Immer weniger Menschen wollen noch Chef werden in Deutschlands Unternehmen. Dabei brauchen wir dringend Führungskräfte, die vorangehen – und veraltete Vorstellungen über das Management abschaffen. Wie es gelingt, Macht wieder mit Lust anzunehmen und den Wandel zu treiben.

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Alle reden von Transformation. Es ist ein abstraktes und technisches Wort, kein Wunder, kommt es doch aus dem Lateinischen. Übersetzt heißt es so viel wie "umformen" oder "verwandeln", was harmlos anmutet. So wie Change. Man passt im Unternehmen hier oder da ein bisschen was an. Ein Ziel, ein Prozess, ein Projekt.

Aber der Eindruck trügt. "Wenn wir von Transformation sprechen, ist in der Regel die komplette Organisation infrage gestellt", sagt Herbert Dreier, der seit mehr als 25 Jahren als Berater und Coach in Deutschlands Topmanagement unterwegs ist. Und momentan ist es eher schwer, ein Unternehmen zu finden, das nicht von Transformation spricht.

Damit diese einschneidenden Veränderungen zumindest eine Chance auf Gelingen haben, braucht es Menschen, die sie vorantreiben. Menschen, die sich, ihr Team und das Unternehmen im Umbruch führen, die Risiken eingehen und entscheiden. Doch kaum jemand will noch Chef oder Chefin in Deutschlands Unternehmen werden. Bei einer repräsentativen Umfrage der "Initiative Chef:innensache" unter mehr als 1.000 Beschäftigten und Studierenden im Mai dieses Jahres kam heraus, dass nur etwa ein Viertel der Befragten im Laufe ihrer Karriere eine Führungsposition übernehmen möchten.

Das sind so wenige wie noch nie seit dem Start der Umfrage 2018. Bei den Frauen sind es sogar nur rund 20 Prozent. Viele von ihnen sehen es nicht ein, rund um die Uhr in einem starren System zu arbeiten, in dem sie im schlimmsten Fall Ansagen nach unten weitergeben, statt selbst etwas zu bewirken. Auch nicht für mehr Geld. Sie haben keine Lust auf die Verantwortung, das Pensum, den Druck, die Konflikte, den Stress. Viele hadern mit der Führungskultur in ihren Unternehmen. Dazu kommt: Deutschland schrumpft – und damit werden nicht nur Fachkräfte rarer, sondern auch Führungskräfte. Bereits 2021 prophezeite die Strategieberatung BCG, dass Deutschland bis zum Jahr 2030 mehr als 340.000 sogenannte Top Executives fehlen werden.

Das ist alles Fakt, genauso wie der Umstand, dass Führung viel abverlangt. Sie gibt aber noch viel mehr zurück. Allen voran die Handhabe, veraltete Vorstellungen von Führung und Organisation abzuschaffen, die viele Menschen davon abhalten, Chef oder Chefin zu werden – und so dafür zu sorgen, dass wieder mehr von ihnen in Führung gehen!

Drei Gründe für Freude an Führung – und wie wir sie wiederfinden:

1. Führungskräfte haben Macht – und die kommt von "machen"

Macht hat in Deutschland einen schlechten Ruf. Viele Menschen hängen dem Wort gedanklich ein zweites an: Missbrauch. Ob Dieselskandal, Wirecard oder Cum-Ex – auch in der Wirtschaft gibt es immer wieder spektakuläre Fälle, in denen Managerinnen und Manager ihre Macht zum Schaden anderer und des Unternehmens ausnutzen. Dabei ist "Macht per se weder gut noch schlecht, sondern in erster Linie Ausdruck vitaler Gestaltungsinteressen sowie der Lebendigkeit in Organisationen", schreiben die Autoren Oliver Haas und Arjan Kozica in einem Beitrag für die Bertelsmann-Stiftung über Macht und Führung in Organisationen.

Oder einfach ausgedrückt: "Macht kommt von 'machen' – haben wir keine Macht, können wir nichts machen", wie Headhunterin Constanze Buchheim von der Personalberatung I-Potentials gerne sagt. "Und nur, wer sie annimmt, kann den Wandel gestalten."

Führung ist all das: gestalten, das Unternehmen und seine Menschen in Bewegung bringen, regelmäßig für (neue) Stabilität sorgen. Und Führung heißt, Entscheidungen selbst zu treffen oder andere in die Lage zu versetzen, es zu tun. Dafür braucht es Macht. Und Führungskräfte haben viel Macht, etwa solche, die sich aus ihrer Position heraus ergibt, eben weil sie Chefin oder Chef sind. Auch ihre Persönlichkeit, die Art und Weise, wie sie mit ihren Mitarbeitenden umgehen, verschafft ihnen Akzeptanz und damit Macht. Spezielle Fähigkeiten und fachliches Know-how verleihen ihnen Macht oder auch Informationen und Netzwerke, die andere nicht haben. Sie haben Macht, indem sie die Konsequenzen schlechter Leistung deutlich machen und gute Leistung belohnen.

Führungskräfte können all diese Arten von Macht nutzen, im Kleinen wie im Großen. Sie können Geschäftsmodelle anpassen oder neu denken, Technologien ausprobieren, Investitionen tätigen, Strategien entwickeln, Ziele definieren, Projekte aufsetzen, Prozesse überarbeiten – und sie können die Führungskultur verändern, die so viele desillusioniert. Sie können zum Beispiel mit dem Glaubenssatz brechen, dass Führungskräfte, gerade in der berühmt-berüchtigten Sandwich-Position, jederzeit für ihr Team und ihre eigenen Vorgesetzten erreichbar sein müssen.

Sie können dogmatische Arbeitszeiten aufweichen und implizite Erwartungen an ständige Anwesenheit dämpfen, auch indem sie mit gutem Beispiel vorangehen. Schließlich sind sie es, die die Rahmenbedingungen mit Blick auf Remote-Work, Teilzeit, Flexibilität, Karrieremodelle und Co. setzen oder zumindest mitgestalten.

Chefs sind auch in der Position, Führung zu teilen, also die alleinige Verantwortung als Managerin oder Manager, die gerade in Zeiten von hoher Unsicherheit und Umbruch als Belastung angesehen wird, auf mehrere Schultern zu verteilen. Oder Führung ans Team zu delegieren wie beim Dax-Konzern Bayer, den CEO Bill Anderson gerade radikal umbaut. Das Ziel des Amerikaners: möglichst wenig Hierarchie. Er möchte, dass "95 Prozent der Entscheidungen" bei Bayer in Zukunft vom Team selbst getroffen werden, also von denen, die die Arbeit letztendlich machen. Nicht mehr von Vorgesetzten und deren Vorgesetzten.

All die (Gestaltungs-)Macht, die Manager und Managerinnen haben, stößt natürlich an Grenzen: und zwar, wenn der eigene Chef ein gegenteiliges Verständnis vom Einsatz seiner Macht hat – und sie nichts verändern können. Dann haben Führungskräfte aber immer noch die Macht zu gehen, um woanders die Führungskultur in ihrem Sinne zu prägen.

2. Haltung finden: Führungskräfte bauen sich ihr Team auf

Fußballvergleiche gehen immer, auch in der Wirtschaft. Bei der Zusammenstellung des Kaders für die Fußball-Europameisterschaft ging es Julian Nagelsmann offenkundig nicht in erster Linie um sportliches Können. Ein "entscheidender Punkt" sei für ihn als Bundestrainer gewesen, sagte Nagelsmann kurz vor dem EM-Start, "dass jeder Spieler seinen Charakter, seine Wesenszüge hat". Seine Aufgabe sei es, "die passenden zusammenzufügen".

Auch dem "Spiegel" erzählte der 36-Jährige, worauf er bei Spielern achte. "Ich schaue weniger auf taktische Dinge, eher auf Soft-Skill-Aktionen." Er beobachte, wer sich wie auf dem Platz, etwa beim Einwurf, beim Aufwärmen oder Auswechseln, verhalte. Das gebe ihm Hinweise auf Fragen wie: "Wie passt er sich in ein Gefüge ein? Hat er eine Idee von Mannschaftsdenken? Oder denkt er, er ist allein auf dem Feld?"

In eine ähnliche Richtung geht Leadership-Vordenker und Bestsellerautor Simon Sinek, wenn er sagt: "You don’t hire for skills, you hire for attitude. You can always teach skills." Man stellt niemand wegen seiner Fähigkeiten ein, sondern wegen seiner Einstellung. Fähigkeiten kann man jedem beibringen. Die Macht, die Führungskräfte haben, können sie einsetzen, um sich das perfekte Team zu bauen – und zwar das mit der richtigen Haltung. Sie stellen klar, welche Verhaltensweisen innerhalb des Teams akzeptiert sind und welche nicht. Sie haben die Möglichkeit, man könnte fast schon sagen, sie haben das Privileg, innerhalb und außerhalb des Unternehmens die Charaktere um sich zu scharen, die ihre Werte und Einstellungen teilen.

Das heißt nicht, dass sie sich lauter Mini-Mes ins Team holen sollen, also nur solche Menschen, die ihnen ähnlich sind. Sondern solche, die offen sind für Veränderung, die sich trauen, etwas ganz anders zu denken und zu machen, die nicht nur optimieren. Solche, die gerne Risiken eingehen und ausprobieren – zusammen im Team, nicht mit den Ellenbogen voran; die man vielleicht mal bremsen muss, aber nie anschieben. Solche, die Fehler bei anderen nicht verdammen und Feedback schätzen, auch wenn es wehtut.

Charaktere, die vielleicht nicht immer leicht im Umgang sind, aber das Team bereichern. Wie Julian Nagelsmann dahingehend tickt, zeigt sich in seiner Antwort auf die Frage, welche Soft Skills Leroy Sané habe, dessen angebliche Allüren vor der EM kritisiert worden waren.

Nagelsmann: "Leroy ist schon speziell. Ein toller Mensch mit feinem Charakter. Aber auf dem Platz mit Ecken und Kanten. Da kann er mit Frustration schlechter umgehen (...). Aber in einem guten Mannschaftsgefüge kann man so was auffangen, und am Ende profitieren alle von ihm." Nur mit Leroy Sané allein werde man nichts gewinnen – aber ohne ihn auch nicht.

Führungskräfte haben obendrein die Chance, im Team zu fördern, was so viele fordern: Vielfalt in jeglicher Hinsicht. Das gilt auch für die Chefetage selbst. Je mehr unterschiedliche Hintergründe die Führungskräfte mitbringen, desto diverser sind auch die Führungsstile. Und sie können – nach dem Motto "Chefs sind Chefsache" – möglichst früh mit dem Aufbau eines Nachwuchsführungskräfte-Pools anfangen: mögliche Kandidatinnen und Kandidaten ansprechen, Perspektiven aufzeigen, Weiterbildungen und Coachings organisieren. Sie sind die Sparringspartner, die (Führungs-)Potenziale heben. Und das wiederum signalisiert auch ins Unternehmen, dass Lust auf Führung gesehen und gefördert wird.

Allerdings gilt auch hier: Jeder kann sich irren. Was also tun, wenn jemand im Team einen richtig guten Job macht, aber die Einstellung nicht stimmt? Die 2020 verstorbene Managementlegende Jack Welch, über 20 Jahre Chef des US-Konzerns General Electric, hatte darauf eine klare Antwort: Er empfahl einst, sich selbst von Führungskräften zu trennen, die alle Ziele erreichen. Und zwar dann, wenn sie Werte des Unternehmens wie Teamgeist oder Wertschätzung nicht teilen oder sogar ignorieren.

Solche Ansagen müssen allerdings – wie bei Welch – von ganz oben kommen und konsequent umgesetzt werden. Noch wird den hochgelobten Leistungsträgern zu oft verziehen, wenn sie es an sozialer Kompetenz vermissen lassen.

3. Als Erstes "Ich": Führungskräfte lernen, sich selbst zu führen

Führungskräfte treffen jeden Tag gefühlt Hunderte Entscheidungen, sprechen mit gefühlt Hunderten Menschen. Sie werden regelmäßig in 360-Grad-Feedbacks oder Kulturumfragen bewertet. Sie können an Leadership-Programmen teilnehmen oder kriegen Coaches an die Seite gestellt.

Kurzum: Sie haben alles, was es braucht, um sich und ihr Handeln regelmäßig zu reflektieren – und es das nächste Mal anders, vielleicht besser zu machen. Und das auch mit Blick auf ihre eigene Person, denn eine gute Führungskraft muss sich selbst gut führen, um andere gut führen zu können. Das ist für viele eine Herausforderung. Es ist allerdings auch ein Booster für die Persönlichkeit zum Nulltarif. Die gute Nachricht dabei: Genauso, wie man lernen kann, andere zu führen, kann man lernen, sich selbst zu führen. Wie gut kenne ich mich? Welche Stärken und Schwächen habe ich? Wofür stehe ich? Auf diese Fragen gilt es Antworten für sich selbst zu finden.

Dazu gehört es auch, Fehler zu benennen und Konflikte nicht zu lösen, "sondern sie in ihrer Funktion zu verstehen, sie zu gestalten, zu nutzen, zu verstärken oder zu verringern", wie Berater und Business-Coach Klaus Eidenschink in seinem Buch "Die Kunst des Konflikts" beschreibt. Nach dem Motto: "Habe ich einen Konflikt oder hat der Konflikt mich?"

Und es geht darum, als Führungskraft zu erkennen, wie man selbst in unterschiedlichen Situationen und Kontexten reagiert, was einen triggert, wo die eigenen Grenzen sind. Headhunterin Buchheim nennt das "mature leadership" oder reife Führung.

Führung zwingt raus aus der Komfortzone. Wer führt, bekommt den Blick für das große Ganze, handelt strategischer, wird widerstandsfähiger und zugleich sensibler. Und merkt, dass es sinnvoll sein kann, das eigene Ego beiseitezuschieben, um andere glänzen zu lassen.

Klar, je weiter es in der Hierarchie nach oben geht, desto einsamer wird es und desto größer wird die Gefahr, von Ja-Sagern umgeben zu sein. Es ist auch nicht so, dass alle Führungskräfte immer und überall über sich nachsinnen – aber sie tun es offenbar immer häufiger. Viele CEOs, so ein Ergebnis der globalen CEO-Studie 2021 der Personalberatung Egon Zehnder, reflektieren sich selbst stärker als früher, holen unbekannte Standpunkte ein und pochen auf regelmäßiges Feedback – auch von anderen CEOs.

Fazit: Drei Gründe für Leadership – und eine große Chance

Führungskräfte sind getrieben und stehen unter permanentem Druck. Das ist ultimativ anstrengend. Daran lässt sich nichts beschönigen. Geld allein wiegt das nicht auf, auch kein Titel. Sehr wohl aber das Gefühl, etwas zu tun, das Wirkung hat. Oder wie Leadership-Professorin und Bestsellerautorin Amy Edmondson sagt: "Teil von etwas zu sein, das größer ist als man selbst – für das man hart gearbeitet hat." Wenn es darum geht, Flexibilität und eine wirkliche Gleichberechtigung im Job zu schaffen – weg vom Allein- oder Hauptverdiener-Modell. Wenn es darum geht, toxische Kulturen auszumerzen, zum Beispiel beim Umgang mit Feedback und Fehlern. Wenn es darum geht, Menschen zu entwickeln und diverse Talente zu gewinnen und so echte Vielfalt zu schaffen.

Am Ende sind es nur die Chefs und Chefinnen selbst, die uns die Freude an Führung zurückbringen können – und die aufstehen, wenn sie auf Widerstand stoßen.

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