Starre Notengrenze?: Was Großkanzleien und Unternehmensberatungen von Bewerbern erwarten

Autor*innen
Antonia Hotter
Ein Mann, dessen Oberkörper aus einem stilisierten Laptop kommt, reicht einer Frau die Hand.

Wie wichtig sind gute Noten im Studium für die anschließende Karriere? Personalleiter sagen: ziemlich wichtig. Das allein genügt allerdings nicht.

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Es ist Oktober, und die Hörsäle der Hochschulen füllen sich langsam wieder. Ein neues Wintersemester beginnt. Für immer mehr Studenten bedeutet das: Stress. Der Anteil derjenigen, die sich häufig gestresst fühlen, hat sich seit dem Jahr 2015 von 23 auf 44 Prozent fast verdoppelt. Das zeigt der Gesundheitsreport des Forsa-Instituts im Auftrag der Techniker Krankenkasse. Die häufigsten Stressursachen sind demnach Prüfungen, die Mehrfachbelastung durch Studium und Arbeit – und Angst vor schlechten Noten. Doch wie wichtig sind akademische Leistungen für die anschließende Karriere?

Mit dieser Frage hat sich der Bildungsökonom Ludger Wößmann beschäftigt. Er untersuchte gemeinsam mit anderen Forschern, worauf Personalleiter achten, wenn sie entscheiden, welche Bewerber sie zu einem Vorstellungsgespräch einladen. Dazu legten sie ihnen Lebensläufe von Hochschulabsolventen mit einem Bachelorabschluss in Betriebswirtschaftslehre vor, die sich für eine erste Festanstellung bewerben. "Tatsächlich war die Hochschulnote für die Personalleiter sogar mit Abstand das wichtigste Kriterium", erklärt Wößmann, der am Münchner Ifo-Institut das Zentrum für Bildungsökonomik leitet.

Vor allem Personalleiter großer Unternehmen maßen der Hochschulnote viel Bedeutung bei. Das könnte einen stärker standardisierten Bewerbungsprozess widerspiegeln, mutmaßen die Forscher. Neben der Hochschulnote werteten die Personalleiter vor allem ein langes Praktikum positiv. Teamsport erwies sich zudem als ein Signal für soziale Fähigkeiten, das für die Auswahlentscheidung relevant war.

Bei der Großkanzlei Gleiss Lutz gibt es eine starre Notengrenze

Die Noten unterschiedlicher Bewerber zu vergleichen ist ein komplexes Unterfangen. "Eine 1,5 als Abschlussnote im Fach Betriebswirtschaftslehre ist nicht automatisch besser als eine 2,4 in Ingenieurwissenschaften", stellt Bernhard Sohnke fest. Er ist Personalleiter bei der Unternehmensberatung Bain für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Um die Leistung der Bewerber möglichst fair zu bewerten, betrachtet Bain die Note nicht als absolute Zahl, sondern im Verhältnis zu anderen Studierenden. Wenn ein Student nicht nur zu den Besten seines Fachs an der eigenen Universität und in Deutschland gehört, sondern auch zu den Spitzenstudenten aller Fachrichtungen im Land, stehen seine Chancen laut Sohnke statistisch gesehen besonders gut, die Aufgaben in den darauffolgenden Runden erfolgreich zu absolvieren.

Denn auf die Bewerber, die es in die nächste Runde schaffen, warten sogenannte Fallstudien. "Dafür muss man analytisches Denkvermögen beweisen, Probleme strukturieren können und auch mal kreative Lösungen finden", sagt Sohnke. Seit 2021 haben Bain-Interviewer in diesen Runden keinen Lebenslauf mehr vor sich. Noten spielen hier also keine Rolle mehr. "Das minimiert Schubladendenken", erklärt Sohnke. Eine feste Vorgabe, in welchem Prozentrang die Noten eines Bewerbers liegen müssen, gebe es bei Bain nicht. Es fallen zum Beispiel auch passende berufliche Ersterfahrung, Engagement außerhalb des Studiums und Auslandserfahrung ins Gewicht. "Uns ist wichtig, nicht nur auf Basis eines einzigen Kriteriums wie einer Abschlussnote Bewerber auszusortieren", sagt Sohnke.

Während Bain keine starre Notengrenze kennt, gibt es diese bei der deutschen Großkanzlei Gleiss Lutz sehr wohl. Mindestens neun Punkte im ersten und im zweiten juristischen Staatsexamen sind hier Voraussetzung. Ausnahmen gibt es selten. Im Jahr 2022 haben 38,3 Prozent aller Examenskandidaten neun Punkte oder mehr im ersten Staatsexamen erreicht. Im zweiten Staatsexamen waren es nur mehr 21 Prozent. "Wer hier dazugehört, hat seine fachliche Exzellenz unter Beweis gestellt, aber auch seine Disziplin, seinen Ehrgeiz und die Fähigkeit, Höchstleistungen abzurufen, wenn es darauf ankommt", sagt Norman-Patric Bade, Personalleiter bei Gleiss Lutz. Diese Eigenschaften seien wichtig, um im Anwaltsberuf erfolgreich zu sein.

"Oft sind die spannendsten Talente jene, die alles abgebrochen haben"

Gute Noten allein genügen allerdings nicht. Der Bewerber muss ins Team passen und das Team zum Bewerber. "Ob das der Fall ist, wird in ausführlichen Gesprächen mit Kollegen aller Senioritätsstufen ermittelt", so der Personalleiter. Um die Bewerber mit guten Examensnoten konkurrieren die Großkanzleien, aber auch der Staatsdienst. Doch der Nachwuchsmangel macht der Justiz zu schaffen. Richter oder Staatsanwalt kann man mittlerweile auch mit weniger als neun Punkten in beiden Staatsexamina werden, zum Beispiel in Berlin.

Wie wichtig Noten für die spätere Karriere sind, hängt von vielen Faktoren ab. "Was für ein Studium nimmt diese Person auf, mit welchem beruflichen Ziel, und wie ist die aktuelle Arbeitsmarktsituation in dieser Branche?", sagt Sibel Ulucan, die beim International Career Service Rhein-Main Studenten und Absolventen berät. Eine Kehrtwende beobachte sie aktuell im Technologiebereich, wo die Nachfrage nach Fachkräften groß sei. "Hier können Absolventen mit einem mittelmäßigen Abschluss und etwas Praxiserfahrung sofort eine Arbeit aufnehmen, wenn sie sich gut präsentieren können und Arbeitswillen zeigen", so Ulucan.

Das deutsche Tech-Start-up Celonis betrachtet Noten zwar als einen Faktor, betont jedoch, dass die Bereitschaft, sich in neue Themen einzuarbeiten, mindestens ebenso wichtig sei. Celonis entwickelt Software, die es ermöglicht, Geschäftsprozesse digital abzubilden und zu analysieren. Dafür beschäftigt sich das Start-up auch mit Entwicklungen, die noch nicht in Lehrplänen enthalten sind. Jasmin Martensmeier, die den Recruiting-Bereich bei Celonis leitet, rät Studenten, praktische Erfahrungen zu sammeln: "Wir machen sehr gute Erfahrungen mit unseren Werkstudenten. Diese profitieren auch in ihrem Studium von ihrer praktischen Tätigkeit im Unternehmen und haben gute Chancen, später übernommen zu werden."

Noten können nicht immer etwas über die Fähigkeiten aussagen, die Personalleiter suchen. Heike Lorenz leitet das Recruiting bei Jung von Matt, einer Kreativ- und Werbeagentur mit Büros in der ganzen Welt. Für Jobs wie den eines "Artdirektors" oder eines "Copywriters" spielen Noten eine untergeordnete Rolle. In diesen Berufen geht es darum, Ideen zu entwickeln und diese kreativ umzusetzen. "Am wichtigsten sind uns deshalb die Arbeitsproben der Bewerber", sagt Lorenz. Personaler bei Jung von Matt achten darauf, wie gut Bewerber mit Kreativprogrammen oder Sprache umgehen und ob sie eine individuelle Handschrift mitbringen. Diese Qualitäten lassen sich schwer in Noten fassen. "Oft sind die spannendsten Talente jene, die alles abgebrochen haben - etwa mehrere Studiengänge. Kreative Menschen ticken oft anders und finden schwer ihre berufliche Heimat", sagt Lorenz. Sie rät Studienanfängern, Leidenschaft und Neugier mitzubringen. "Ohne Begeisterung wird man auf Dauer nicht glücklich. Mit Freude am Studium kommen die besten Ergebnisse von allein."

Noten sind also nicht alles. Doch in manchen Branchen können die Erwartungen an die akademischen Leistungen eine Hürde für den Berufseinstieg darstellen. Absolventen mit guten Noten haben oft bessere Chancen, die erste Vorauswahl zu überstehen. Im Laufe der Karriere rücken die akademischen Leistungen jedoch zunehmend in den Hintergrund. Andere Faktoren gewinnen an Bedeutung: Netzwerke, Weiterbildungen und vor allem die Leistung in der Praxis.

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