Psychische Gesundheit: Die Gene alter Mitschüler beeinflussen Ihre Psyche – bis heute

Autor*innen
Anaïs Kaluza
Eine Frau und ein Mann haben Statuen als Kopf und sitzen auf einem Stein

Ob wir depressiv werden oder Alkoholiker – das hängt auch davon ab, welche Schulfreunde wir hatten. Eine neue Studie zeigt, wie mächtig soziale Ansteckung ist.

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Die Abschlusszeugnisse sind längst vergilbt, die Namen der alten Mitschüler halb vergessen. Doch ihre Spuren bleiben. Wer als Erwachsener depressiv wird, wen Ängste plagen, wer zu viel Alkohol trinkt oder ein Drogenproblem hat, der saß vielleicht mit den falschen Leuten in einem Klassenraum. Das legt eine Studie nahe, die gerade im American Journal of Psychiatry erschienen ist.

Die Forschenden untersuchten dafür mehr als 600.000 Schweden, die in den Achtzigern und Neunzigern geboren wurden. Das Ergebnis: Ihre Schulkameraden prägten sie und beeinflussten ihr Risiko, später Ängste, Süchte oder eine Depression zu entwickeln – und zwar bedingt durch ihre Gene. Wenn Mitschüler also ein familiäres Risiko für diese Diagnosen in sich trugen, dann färbte dieses unsichtbare Risiko auf ihre Mitschüler ab. Bis weit in die Zukunft hinein.

Zugespitzt würde das bedeuten: Die DNA eines fremden Menschen, abgespeichert in einem fremden Körper, bestimmt mit, ob man mit 30 einen Therapieplatz braucht. Und das nur, weil man mit 17 im selben Biologiekurs saß. Ist das wirklich möglich?

Einflussreiche andere

Die Hälfte aller psychischen Erkrankungen nehmen Studien zufolge in der Jugend ihren Anfang. Auch deshalb versuchen Wissenschaftler besser zu verstehen, warum sie sich in dieser Phase entwickeln. Welchen Anteil die Gene daran haben und welchen das Umfeld.

In der Pubertät gesellt sich zu den Eltern eine zweite, einflussreiche Instanz: die Gleichaltrigen. Was Teenager sagen und tun, bestimmt maßgeblich mit, was andere Teenager sagen und tun und denken und fühlen. Trinken, rauchen, kiffen, ungesund essen, sich zu dick finden, sich uncool finden, sich mobben, sich prügeln: Viele Verhaltensmuster breiten sich unter Jugendlichen aus. Manche Forscher vermuten sogar, dass sie ansteckend sein können: dass Einsamkeit, Drogenkonsum oder Essgewohnheiten von Person zu Person zu Person überspringen. Weil sich Jugendliche aneinander anpassen, um dazuzugehören. Weil sie sich Freunde suchen, die ihnen bereits ähneln. Und weil sie dieselbe Umwelt teilen: denselben Schulhof, dieselbe Disco, denselben Fußballplatz, dieselbe Einkaufspassage.

Die eigenen Gene können dabei wie eine Bremse wirken oder wie ein Sprungbrett: Sie können den Einfluss der Umwelt eindämmen oder beflügeln. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand regelmäßig kifft, wird zum Beispiel etwa zur Hälfte von den Genen bestimmt.

Welche Rolle die Gene von anderen spielen, wurde bislang kaum untersucht. Dabei wiesen schon frühere Untersuchungen darauf hin, dass sie durchaus einen Einfluss haben. Eine Studie aus den USA zeigte 2019: In jedem Jahrgang gab es einige wenige Schüler, die ein hohes genetisches Risiko für Nikotinsucht mitbrachten. Die Studienautoren nannten sie "bad apples". Denn sie beeinflussten das Rauchverhalten ihrer gesamten Stufe. Und hatten dadurch mehr Einfluss auf ihre Mitschüler als deren eigenes Genom.

Wie die DNA anderer Menschen auf uns wirkt

Fremde Gene, die das eigene Leben prägen: Im ersten Moment klingt das rätselhaft. Doch eigentlich ist der Prozess dahinter simpel: Gene beeinflussen Menschen, und Menschen beeinflussen wiederum andere Menschen. "Indirekt beeinflusst uns alle der Genotyp unserer Mitmenschen", sagt Jessica Salvatore. Sie ist Entwicklungspsychologin und Erstautorin der neuen Studie.

Ihr Team analysierte einen riesigen Datensatz, anonymisiert und zusammengetragen aus Gesundheitsregistern und Meldeämtern. Er beschreibt über 600.000 Schwedinnen und Schweden: Wo sie als Teenager gewohnt haben, auf welche Schule sie gegangen sind und in welche Abschlussklasse. Ob sie während oder nach der Schulzeit psychisch erkrankt sind. Und welche psychischen Diagnosen in ihren Familien vorkamen. Die Informationen über die Familien nutzten die Forscher, um das genetische Risiko zu berechnen. Es basiert also nicht auf DNA-Proben – anders als in der Studie zum Rauchen.

"Das schränkt die Interpretation der Daten ein", sagt Jürgen Deckert. Er ist Psychiater, Experte der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie und erforscht an der Uni Würzburg die genetischen Grundlagen psychischer Störungen. "Ob der Effekt wirklich nur auf die Gene zurückgeht, das kann man nicht sicher sagen. Vielleicht tragen die vielen Erkrankungen in einer Familie auch durch Modellernen zum Effekt bei." Was man auf jeden Fall sagen kann: Schüler bringen die Vorgeschichte ihrer Familie mit ins Klassenzimmer. Wenn Eltern eine psychische Störung haben, dann prägt das ihre Kinder: genetisch und durch die Erziehung. Und diese Prägung scheint einzuwirken auf ihre Klassenkameraden.

Doch wie genau kommt dieser Effekt zustande? Jürgen Deckert sagt: "Nehmen wir an, es waren die Gene: Natürlich kommuniziert nicht das Gen eines Menschen mit dem Gen eines anderen Menschen. Wie sollte das funktionieren? Es kann den Körper nicht verlassen." Wenn Gene sich auch auf andere Menschen auswirken, etwa auf Klassenkameraden, dann nur über Umwege, sagt Deckert: "Sie müssen beim Genträger ein Verhalten auslösen. Und dieses Verhalten muss wiederum bei anderen Menschen ein Verhalten triggern."

Wie Risikogene zu einer Diagnose führen

Dafür muss man auch verstehen: Risikogene für Depressionen oder Süchte lösen selten auf direktem Weg diese Diagnosen aus. Stattdessen wirken sie über Umwege. Ein Risikogen fürs Rauchen beeinflusst etwa, wie stark Nikotinrezeptoren im Hirn auf eine gerauchte Zigarette reagieren. Eins für Süchte, wie sensibel das Belohnungszentrum und seine Dopaminrezeptoren auf Drogen ansprechen. Und das sind nur zwei Beispiele. Gene legen wie einzelne Bausteine das Fundament, auf dem eine psychische Störung entstehen kann. Hinzu kommen Einflüsse aus der Umwelt, der Familie, den Freunden – und den Mitschülern.

Schon bei einem einzelnen Menschen besteht der Weg vom Gen zur Diagnose also aus vielen Schritten. Der Weg vom Gen eines Menschen zur Diagnose eines Mitmenschen ist vermutlich noch verzweigter.

Es kann zum Beispiel sein, dass bei einigen Schülern ihr familiär bedingtes Suchtrisiko dazu führte, dass sie bereits in der Schulzeit viel tranken, viel kifften oder zum Feiern Ecstasy einwarfen – aber noch kein diagnostiziertes Suchtproblem hatten. Trotzdem hätte allein der Konsum auf ihre Mitschüler abfärben können. Es ist aber auch möglich, dass ihr Risiko die anderen noch subtiler beeinflusste. "Es gibt viele subklinische Verhaltensweisen, die unsere Ergebnisse erklären könnten", sagt Jessica Salvatore. "Unter Jugendlichen kann es sozial belohnend sein, Regeln zu brechen, wenn man dafür von Freunden ein Lachen oder einen High Five bekommt." Ein familiär bedingtes Suchtrisiko könnte also auch bedeuten: Schüler jubeln, wenn ihre Mitschüler ein Bier exen – und verstärken so deren Alkoholkonsum. Auch bei Depression und Angststörungen könnten solche Prozesse stattfinden, sagt Salvatore: "Man grübelt gemeinsam über Probleme, wodurch sich auch bei anderen negative Gedankenmuster verstärken. Und das kann wiederum Ängste oder Depressionssymptome verschlimmern."

Der Effekt war am stärksten innerhalb einzelner Abschlussklassen. Je enger der Kreis, desto größer der Einfluss. Das zeigt laut Salvatore, wie wichtig Interaktionen sind, damit ein genetisches Risiko seine Wirkung entfalten kann. "Wir betrachten Risiken immer als etwas Individuelles. Doch wir hätten mehr davon, wenn wir über Risiken auch als etwas Soziales nachdenken. Risiken entstehen auch auf Klassen- oder Schulebene."

Psychische Störungen entwickeln sich nie im luftleeren Raum. Man kann das beunruhigend finden – oder eine Chance darin sehen. Starke, intime Freundschaften in der Jugendzeit können die psychische Gesundheit auch fördern. So wie Teenager sich negativ beeinflussen, können sie sich auch positiv beeinflussen. Interventionen setzen deshalb zunehmend genau da an: Es hilft beispielsweise, wenn ältere Jugendliche über die Gefahren von Drogen aufklären – statt Erwachsene.

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