Die zweite Familie: Freundschaften pflegen

Autor*innen
e-fellows.net Redaktion
Ein freigestellter sprechender Mund, aus dem farbige Blitze kommen. Daneben steht ein Wählscheibentelefon.

Eine gute Beziehung zu Freunden ist nicht selbstverständlich, auch wenn sich das früher meist so anfühlte. Wieso konntest du Freundschaften während der Schulzeit so viel einfacher halten? Was war das Geheimrezept? Eine Reise in die Vergangenheit und eine Bestandsaufnahme der Gegenwart zeigen, was in Freundschaften wirklich zählt.

"Liebe Nora, hab mir gerade nochmal angeschaut, wer so alles kommen will zum Klassentreffen. Irgendwie ist außer dir niemand dabei, den ich unbedingt sehen möchte. Und dich kann ich auch so treffen. Die nächsten Wochenenden sind bei mir eh schon so vollgestopft und das Klassentreffen wäre die einzige Sache, die ich streichen könnte. Wie gerne möchtest du denn hingehen? Wärst du sehr traurig, wenn ich absage?"

"Mh ... Also ich wäre eigentlich schon gerne hingegangen. Eher aus Neugierde, weniger aus Wiedersehensfreude. Aber halt nicht alleine. Entscheide du, ich kann mich auch anderweitig beschäftigen. Und höre da ein bisschen raus, dass du dich eigentlich schon entschieden hast."

Was in meinen Augen harmlos begann, wuchs sich in den nächsten Nachrichten zu einer grundlegenden Debatte über das Ein­mal­eins der Freundschaftspflege aus: Hat wirklich sie überproportional oft nach einem Treffen gefragt und ich zu häufig abgesagt? Ist es überhaupt ok, gemeinsam geplante Aktivitäten eine Woche vorher wieder abzusagen? Oder sollte man das bleiben lassen – wohlwissend, dass es in Zukunft noch schwieriger werden könnte, die Freundschaft aufrechtzuerhalten, wenn sich die Wege nach der Familiengründung oder einem jobbedingten Umzug weiter auseinanderentwickeln?

Freunde schlagen sogar die Familie

Eine aktuelle Studie vom Statista Research Department aus dem Jahr 2021 zeigt: Freunde sind neben der Familie das wichtigste im Leben der Deutschen. In einer weiteren Umfrage der Gesellschaft für Konsumforschung aus dem Jahr 2016 stimmte über die Hälfte der Befragten der Aussage zu, dass Freunde sogar immer wichtiger würden, weil sich der Familienzusammenhalt lockert. Und für 42 Prozent waren Freunde sogar ein Familienersatz. Ein ähnliches Bild zeigt sich in einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach 2014 ("Jacobs Studie"): 85 Prozent der Befragten fanden, dass Freunde im Leben "ganz besonders wichtig" sind – noch vor der Familie (78 Prozent Zustimmung) und einer glücklichen Partnerschaft (75 Prozent Zustimmung). Kein Wunder, hält eine durchschnittliche Ehe in Deutschland doch nur durchschnittlich 15 Jahre. Ihren besten Freund kennen die Teilnehmer der Jacobs Studie hingegen im Schnitt 24 Jahre.

Was die Zahl ihrer Freunde angeht, zeigten sich in der Jacobs Studie 84 Prozent der Deutschen zufrieden. Nur 14 Prozent wollten mehr gute Freunde. Bei der Qualität ihrer Freundschaften sahen viele allerdings Verbesserungsbedarf: 40 Prozent der Umfrageteilnehmer wünschten sich ihre Freundschaften "enger und tiefergehend".

Meine Freundin wohl auch. Ihre Enttäuschung beschäftigt mich. War ich wirklich zu nachlässig in letzter Zeit? Oder sie zu empfindlich? Erfahrungsgemäß bringen einen Schuldfragen in sozialen Beziehungen selten weiter. Wie war das eigentlich früher, in der Schule, als Freundschaften noch einfach so da waren?

Ich krame in meiner Erinnerungskiste, die etwas verstaubt im Bücherregal steht. Darin habe ich gesammelt, was mir in den letzten Jahren wichtig war. Von Menschen, die mir wichtig waren und sind. Die Jahre fliegen durcheinander. Ich suche nach Dingen von meinen drei besten Freundinnen zu Schulzeiten. Von der 5. bis zur 13. Klasse waren wir ein unzertrennliches Vierergespann. Sie waren es, die mich zur passionierten Passivraucherin gemacht haben. Egal, wie schlecht das Wetter war, ich habe sie als Nichtraucherin mit auf den Pausenhof begleitet. Mit ihnen ließen sich die Zumutungen des Erwachsenwerdens gut ertragen.

20 Dinge, die ich an dir mag

Ich finde schwarz-weiße Fotos aus dem Automaten als wir 15 waren. Ich freue mich, dass damals noch niemand etwas von "duck faces" gehört hat. Ich habe meine Lieblingsmütze auf dem Kopf, gehäkelt von Marlene. Ich würde sie heute noch tragen, wäre sie nicht irgendwann so ausgeleiert. Zu Marlene habe ich keinen Kontakt mehr. Ich finde eine Zettelsammlung von Anna. Sie heißt: "20 gute Dinge an dir". Auf ihnen steht: "Du bist kein 'Normal-Teenager'", "Du verstehst mich fast immer" oder "Du bist die einzige, der ich die Hälfte meiner Süßigkeiten schenken kann, ohne dass es mich stört". Wenn ich Annas Adresse in Berlin hätte, würde ich ihr jetzt eine Packung Schokobons schicken. Habe ich aber nicht. Obwohl wir im selben Bundesland studiert haben und uns von der 5. Klasse an bis zum Abi fast jeden Tag gesehen haben.

Wie das passieren konnte, weiß ich selbst nicht so recht. Zu Beginn haben wir uns noch geschrieben und uns bei Partys besucht. Doch vor allem die Abstände zwischen Annas Nachrichten wurden immer größer. Irgendwann verschwand sie ganz. Und in schwachen Momenten vermisse ich sie in meinem Leben. Zu Geburtstagen schreibe ich ihr manchmal auf Instagram. Zuletzt vor ein paar Wochen: "Liebe Anna, anscheinend war ich schon letztes Jahr nicht erfolgreich. Aber gestern musste ich wieder an dich denken. Nachträglich alles Gute zum Geburtstag. Ich hoffe, es geht dir gut. Wäre schön, mal wieder was von dir zu hören". Reaktion? Keine. Ich denke, gut, Anna ist wohl einfach nicht aktiv auf Instagram unterwegs. Dann werfe ich einen Blick auf ihr Profil: Anna hat gestern einen Post veröffentlicht. Es muss wohl doch an mir liegen.

Briefe aus der Schulzeit

Ich finde Briefe von Nora. Ein schwarzer Umschlag mit einer Kreidezeichnung eines Fischs darauf. Darauf steht: "Damit du nicht die einzige Deprimierte bist (na ja, ich bin auch noch da), hab ich mir gedacht, ich schick dir mal den Deprimiertheitsfisch Theo. Du könntest eigentlich, so zur Aufheiterung, deinen Franzosen mal wieder kontaktieren. Is zwar teuer, könnte aber dein Ego verbessern. Mittlerweile ist es Viertel vor eins, ich hab kein Mathe, Musik oder Physik gemacht, mir aber dafür die Bachelorette, Lenßen & Partner und Popstars abwechselnd gegeben. Kein Wunder, dass Pisa so ein Desaster war."

Nach dem Durchwühlen meiner Kiste komme ich zum Schluss, dass das Geheimnis einer Schulfreundschaft vor allem im gemeinsamen Alltag liegt. In der vielen Zeit, die man miteinander verbringt. Möchte man eine Jugendfreundschaft auch ins spätere Leben retten, muss man sich Zeit nehmen – denn sie ist nicht mehr so selbstverständlich in rauen Mengen vorhanden. Um ein Uhr nachts einen Brief verfassen, der nur eine kurze Momentaufnahme eines Gemütszustandes ist? Da schlafe ich schon seit zwei Stunden. 20 Gründe überlegen, warum man Anna nun eigentlich genau vermisst? Im Studium oder Job bleibt nur Zeit für ein vages Gefühl.

Das Geheimnis einer guten Freundschaft

"Was ist Ihnen in einer Freundschaft ganz besonders wichtig?", wollte das IfD Allensbach in der Studie wissen. Platz 1: "Dass man sich aufeinander verlassen kann, wenn man Hilfe braucht". Platz 2: "Dass man sich immer um Rat fragen kann." Platz 3: "Dass man sich offen die Meinung sagen kann." Diese drei Aspekte fanden durchschnittlich 81 Prozent der Befragten ganz besonders wichtig. Häufige Treffen und regelmäßigen Kontakt sahen die meisten dagegen gar nicht als so zentral an.

Gelegenheit macht Freundschaft

Doch muss man sich die von allen gewünschte Offenheit und Unterstützung in allen Lebenslagen nicht erst einmal erarbeiten? Wie soll das ohne Zeit füreinander funktionieren? Die Sozialpsychologin Beverley Fehr hat in den 90ern Freundschaftsprozesse untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass gegenseitige Selbstoffenbarung in Freundschaften ein zentraler Faktor ist. Und dafür braucht es Gelegenheit. Studien belegen, dass der Zufall oft eine entscheidende Rolle spielt: Wir befreunden uns mit Nachbarn, Kommiliton:innen und Kolleg:innen. Einfach, weil sie in unserer Nähe sind.

Die Kontakthäufigkeit wurde in zahlreichen Studien als wichtige Requisite der Freundschaftsgründung nachgewiesen. Denn auch in Freundschaften gibt es den sogenannten "Mere-Exposure-Effect": Wir empfinden Vertrautes als belohnend, weil es unser Gehirn leichter verarbeiten kann. Viele Freundschaften überleben, ohne dass die involvierten Personen sich besonderer Strategien der Freundschaftspflege bewusst wären, schreibt Beverley Fehr in "Friendship processes" – "(…) perhaps because friendship maintenance happens to be a by-product of simply spending time together."

Klingt eigentlich gar nicht so kompliziert, denke ich.

"Um die Debatte dann ganz offiziell zu beenden: Wollen wir uns einfach die Woche mal treffen?" schreibe ich Nora. Dienstag wäre bei mir ganz gut. Oder auch am Wochenende, zu viert, falls Jan da ist?"

"Das ist doch ein praktischer Ansatz ", findet Nora. "Gerne Dienstag." Und dann ist wieder alles wie früher.

Bewertung: 4,5/5 (58 Stimmen)