Ingo Froböse: Ist Sport die beste Medizin, Herr Froböse?

Autor*innen
Hella Kemper und Urs Willmann
Mann mit Tennisschläger in einer und Tennisball in der anderen Hand. Er befindet sich mitten in einem Sprung und ist umgeben von weiteren Tennisbällen.

Wem es schlecht geht, der soll sich mal schonen? Bloß nicht! Das sagt der Sportwissenschaftler Ingo Froböse. Denn der Körper brauche die Bewegung – und den guten Stress.

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In unserer Gesprächsreihe "Lebensfragen" beantworten Forscherinnen und Forscher in loser Folge Fragen, die Menschen bewegen.

DIE ZEIT: Ist Sport die beste Medizin, Herr Froböse?

Ingo Froböse: Genauer wäre: Körperliche Aktivität ist die beste Medizin. Medikamente helfen nur bei bestimmten Problemen. Bewegung dagegen ist für fast alle körperlichen Funktionen wichtig. Nur was genutzt wird, kann sich entwickeln, was ungenutzt bleibt, verkümmert. Und im Gegensatz zu Medikamenten hat körperliche Aktivität auch keinen Beipackzettel und selten Nebenwirkungen.

DIE ZEIT: Klingt, als sei Bewegung ein Wundermittel.

Froböse: Wir wissen seit 2007, dass die Muskulatur unter Belastung enzymähnliche Botenstoffe ausschüttet. Diese Myokine leiten im ganzen Körper wichtige Wachstumsprozesse ein. Ihre Wirkweise ist noch nicht ganz entschlüsselt. Wir wissen aber, dass sie den Stoffwechsel positiv beeinflussen und entzündungshemmend wirken können.

ZEIT: Was sind das für Prozesse, die starten, wenn wir körperlich aktiv sind?

Froböse: Muskelarbeit braucht Sauerstoff. Deshalb erhöhen sich von der ersten Sekunde an Atem- und Herzfrequenz, der Blutdruck steigt. Damit können Blutgefäße nur gut umgehen, wenn sie elastisch genug sind. Ohne elastische Gefäße kann der Organismus den Blutdruck nicht regulieren.

ZEIT: Kann man Gefäße wie Muskeln trainieren?

Froböse: Ja, werden sie nicht beansprucht, versteifen und erlahmen sie – sie legen sich schlafen. Wir können sie aber aufwecken: Bei regelmäßiger körperlicher Aktivität werden die Kapillaren des Herzmuskels besser versorgt. Sein Schlagvolumen wird größer, seine Kraft wächst. Das Herz ist ja nichts anderes als ein Muskel. Je häufiger er beansprucht wird, desto mehr vergrößert sich sein Volumen. Dadurch sinkt – bei gleicher Leistung – die Frequenz. Das ist gesünder.

ZEIT: Wie lange muss man trainieren, bis sich eine Wirkung zeigt?

Froböse: Das geht rasch: Nach zwei Wochen und sechs Trainingseinheiten sind positive Effekte und Verbesserungen im Herz-Kreislauf-System messbar. Dabei kann der Körper sein Leben lang lernen, Energiequellen wieder neu zu nutzen.

ZEIT: Welche Quellen meinen Sie?

Froböse: Der wichtigste Energiespender für Muskeln und Gehirn und für alle anderen Prozesse des Organismus ist das Adenosintriphosphat, kurz ATP. Es ist das körpereigene Benzin, mit dem der Energiebedarf aller Zellen gedeckt wird: damit Haare und Nägel wachsen, die Haut sich erneuert, die Körpertemperatur aufrechterhalten wird, das Herz schlägt, die Muskeln die Treppenstufen im Laufschritt nehmen. Pro Tag produziert der Durchschnittsmensch 60 bis 70 Kilogramm ATP.

ZEIT: Wie produzieren wir ATP?

Froböse: Indem wir Zucker nutzen und besonders Fette quasi "im Fegefeuer des Sauerstoffs verbrennen". Deswegen muss der Mensch viel Sauerstoff zur Verfügung stellen. Das erreicht er beim Sport, indem er die Atem- und Herzfrequenz steigert. Ein trainierter Sportler kann so Leistung dauerhaft erbringen und Fette selbst bei einem Puls von bis zu 170 verbrennen. Er bleibt sehr lange im aeroben Bereich – was bedeutet, dass sein Organismus ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird, was die ökonomischste Form der Energiegewinnung ist.

ZEIT: Und ein Couchpotato?

Froböse: Ein untrainierter Körper erbringt Leistung häufig anaerob. Dabei produziert und verbraucht er Energie, ohne dass ihm dafür genug Sauerstoff zur Verfügung steht. Die Folge: Er macht schnell schlapp. Untrainierte Organismen müssen erst wieder lernen, häufiger aerob zu arbeiten, also mithilfe von Sauerstoff Fette zu nutzen, um Energie etwa für die Muskeln zu gewinnen. Das ist ein wichtiger gesundheitlicher Effekt von Training. Im Alltag werden wir viel zu selten so gefordert, dass der Organismus üben könnte. Wenn Sie aus dem Ruhezustand heraus eine Treppe hochsprinten möchten, müssen Sie Ihre Sauerstoffaufnahme schnell hochfahren. Ein untrainierter Mensch kann das nicht. Er schnappt nach Luft.

"Ausdauersportler leben statistisch länger"

ZEIT: Wie wird ein Couchpotato zum Sportler?

Froböse: In der Anfangszeit kann er gar nicht langsam genug unterwegs sein: Wer seine Joggingschuhe nach zehn Jahren wieder mal anzieht, sollte moderat beginnen: laufen, ohne zu schnaufen. Vier Schritte einatmen, vier Schritte ausatmen.

ZEIT: Oder besser erst spazieren gehen?

Froböse: Das ist für die meisten zu langsam. Man braucht eine gewisse Atem- und Herzfrequenzerhöhung, also den guten Stress. Einigen Untrainerten reicht anfänglich dafür schon ein Spaziergang. Andere brauchen den zügigen Lauf. Aber auch wenn der Anfang geschafft ist, sollte man nicht zu intensiv trainieren. Das machen viele falsch. Wichtig ist ein ruhiges, langes Training. Dabei nur ab und zu den Hügel hochsprinten – für den Kick.

ZEIT: Welchen Ausdauersport außer Laufen empfehlen Sie Anfängern?

Froböse: Jeden. Die Körperzelle weiß nicht, was sie tut. Sie merkt nur: Wir sind unterwegs, ich muss jetzt Energie produzieren. Das klappt mit jeder Ausdauer-Sportart.

ZEIT: Was geschieht sonst noch im Organismus?

Froböse: Die Arbeit des Immunsystems verändert sich von der ersten Sekunde der körperlichen Aktivität an. Es empfindet körperliche Belastung als Stress. Damit meine ich positiven Stress, der einen Trainingsreiz setzt. Indem unser Immunsystem belastet wird, übt es seine Abwehr. 1986 haben wir an der Sporthochschule bundesweit die erste Sportgruppe mit Brustkrebs-Patientinnen initiiert. Unser Ziel war es, das Immunsystem als Helfer im Kampf gegen Krebs zu verbessern. Inzwischen nutzen wir moderates Ausdauertraining, um präventiv vor Krebs zu schützen.

ZEIT: Wie kann ein besseres Immunsystem vor Krebs schützen?

Froböse: Eine starke Abwehr erkennt entartete Zellen früher und geht spezifischer gegen sie vor.

ZEIT: Dann wären Sportler immun gegen Krebs?

Froböse: Zumindest leben Ausdauersportler statistisch länger. Und sie bekommen auch seltener Krebs. Sport schützt vor entarteter Zellteilung, weil er eine Art Hungersnot für Zellen bedeutet und die Zellreinigung effektiver geschieht.

ZEIT: Das müssen Sie erklären.

Froböse: Wer Sport treibt, hat einen höheren Bedarf an Energie, dafür werden alle Prozesse im Körper angekurbelt, auch in den Zellen. Aktive Zellen und vor allem "hungernde" Zellen bauen verbrauchte Bestandteile ab, das nennt man Autophagie. Die Zellen halten sich selbst gesund. Ausdauersport wirkt also ähnlich wie Fasten. Das Risiko, dass Zellen entarten, sinkt dadurch deutlich. Zusätzlich fördern Aktivität und Training auch die mitochondriale Gesundheit – die Kraftwerke unserer Zellen bleiben viel länger fit.

ZEIT: Unsere Zellen hungern lassen, so lautet Ihre Empfehlung?

Froböse: Ja, denn zunehmende körpereigene Fettsubstanz schüttet Adipokine aus, diese Botenstoffe fördern Entzündungen im Körper. Mehr Fett anstelle von Muskulatur verschärft die Entzündungsreaktionen im Körper.

ZEIT: Und dagegen hilft Sport dann auch?

Froböse: Kein Sport bedeutet nun mal in der Regel: weniger Muskeln, mehr Fettanteile. Von den vielen Adipokinen ausgelöste Entzündungen führen dann nicht selten zu einer Überreaktion des Immunsystems. Sie erhöhen das Risiko, dass Zellen entarten – Krebs entsteht.

ZEIT: Schuld ist immer ein zu hoher Fettanteil?

Froböse: Wir vermuten, dass Adipokine aus dem Fett die Hauptursache für Allergien sind. Sie sind ein Teil des komplizierten biochemischen Geschehens, das schleichende Entzündungen auslösen kann, die sich im Körper wie Trojaner unmerklich ausbreiten. Krebs ist eine mögliche Folge. Ein anderer Mensch erkrankt zum Beispiel an Diabetes Typ 1; diesen Zusammenhang hat eine Düsseldorfer Studie gezeigt.

ZEIT: Hilft Sport auch gegen Diabetes Typ 2?

Froböse: Ja, denn es handelt sich um ein Problem mit dem Zuckerstoffwechsel: Die Muskelmasse fehlt als Verwerter des Zuckers. Dieser bleibt in der Blutbahn und erhöht den Blutzuckerspiegel.

ZEIT: Wie sähe eine richtige Therapie aus?

Froböse: Muskeltraining und Muskelaufbau. In der Forschung wird gerade darüber diskutiert, ob Alzheimer eine Art Diabetes Typ 3 ist. Alzheimer ist auch eine Stoffwechselerkrankung, die möglicherweise dadurch ausgelöst wird, dass zu viel Zucker den Gehirnstoffwechsel massiv verändert. Wird er nicht im Körper verbrannt, landet er da oben – und erhöht, wie einige Studien nahelegen, das Risiko für Alzheimer.

"Die Muskulatur ist das Ausdrucksorgan unserer Emotionen"

ZEIT: Nun klingen Sie, als ob sich alle Erkrankungen auf Bewegungsmangel zurückführen ließen.

Froböse: Das wäre zu einfach. Es geht um etwas anderes: Der Körper braucht Belastungssituationen, um positive Wachstumsreize zu bekommen. Körperliche Aktivität ist ein wichtiger Baustein, Lernen, Denken und Handeln sind weitere, wie auch Ernährung und Ruhe: Wir brauchen all dies, um den Körper in eine Balance zu bringen.

Gehen Sie eine Feierabendrunde mit dem Dackel um den Block. Nutzen Sie den Körper, um den Geist zu entlasten. Atmen Sie den Tag weg.
Ingo Froböse, Sportwissenschaftler

ZEIT: Was meinen Sie mit Balance?

Froböse: Unterforderung ist genauso schlecht wie Überforderung. Auf die Körperlichkeit bezogen, gibt es in unserer Gesellschaft eine extreme Unterforderung. Parallel dazu sind viele mental überfordert. Für das Gesamtsystem resultiert daraus kein Belastungsproblem, sondern ein "mentales" Regenerationsproblem. Wir haben etwa verlernt, Pause zu machen. Sportler wissen, dass sie nur durch Pausen richtig gut werden. Regeneration ist aber ein aktiver Prozess. Das schaffen die meisten Menschen im Alltag nicht mehr. Sie haben psychische Probleme, weil sie Stress durch körperliche Unterforderung und durch mentale Überforderung haben – was sich letztlich aufsummiert. Spitzensportler achten auf Training und Belastung; sie machen nach der Anstrengung Massage, Physiotherapie, Eisbad. Die Unsportlichen dagegen schauen zur Regeneration Netflix. Dabei haben sie bereits den ganzen Tag bei der Arbeit vor dem Computer gesessen. Und abends hocken sie sich wieder vor einen Monitor. Dadurch gerät das System aus dem Gleichgewicht.

ZEIT: Wie generieren wir frische Ressourcen?

Froböse: Gehen Sie eine Feierabendrunde mit dem Dackel um den Block. Nutzen Sie den Körper, um den Geist zu entlasten. Atmen Sie den Tag weg.

ZEIT: Wie viel Sport braucht unser Geist?

Froböse: Die Muskulatur ist das Ausdrucksorgan unserer Emotionen. Schimpfen Sie mal. Oder drücken Sie Wiedersehensfreude aus. Sie werden staunen, wie stark Sie sich dabei bewegen. Die Muskulatur lebt unsere Emotionen aus. Meine Sorgen bin ich nach 20 Minuten ruhigem Laufen los. Der Grund: Meine Motorik beansprucht 50 Prozent der geistigen Kapazität. Ich konzentriere mich aufs Laufen – und vergesse meine Probleme.

ZEIT: Manchmal möchten wir die gestresste Seele nur noch baumeln lassen – ohne Anstrengung.

Froböse: Es ist aber gerade Teil des Wirkmechanismus, dass Sport ein wenig anstrengend ist. Bewegung mit moderater Intensität wirkt sogar antidepressiv. Zum Stressabbau ist nichts besser geeignet als Sport. Wenn Langzeitstress zu oft Ihre Blutbahnen mit Stresshormonen wie Cortisol flutet, dann bauen Sie diese Stoffe am besten ab, indem Sie Ihren Organismus mit körperlicher Bewegung ankurbeln. Sie setzen einen Reiz, der Sie zwar im ersten Moment anspannt, auf den aber effiziente Entspannung folgt. Je mehr Stress, desto mehr Sport müsste man ausgleichend machen.

ZEIT: Kann man auch zu viel Sport machen?

Froböse: Ja. Ich bin zum Beispiel kein Freund von Ultra-Marathons. Bei extremen Belastungen leidet das Immunsystem. Es entstehen Entzündungen durch zu hohe Intensität. Die Dosis macht das Gift.

ZEIT: Viele Menschen leiden unter Rückenbeschwerden, kaputten Knien und Hüften. War bei denen die Bewegung das Gift?

Froböse: Im Gegenteil! Es ist fast immer die mangelnde Bewegung, die zu diesen Problemen geführt haben, denn gerade Gelenke leiden, wenn sie nicht bewegt werden und einrosten. Wer in 15 Sekunden nicht fünfmal ohne Hilfe der Arme aus dem Stuhl aufstehen und sich hinsetzen kann, ist in zwei Jahren vermutlich pflegebedürftig.

ZEIT: Wie bitte?

Froböse: Ich lege noch einen drauf: Wer eine Gehgeschwindigkeit von unter 0,8 Meter pro Sekunde hat, läuft Gefahr, bald pflegebedürftig zu sein. Denn Motorik und Kraft sind Garanten für Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Es geht hier um das Phänomen der Sarkopenie. Übersetzt: Verlust des Fleisches. Diese Erkrankung – zu wenig Muskelmasse, zu wenig Kraft – betrifft drei Viertel der Menschen ab dem 60. Lebensjahr. Die Gefahr zu stürzen steigt. Sie können nicht schnell genug reagieren und keine schweren Lasten heben. Nicht, weil sie alt geworden sind, sondern weil eine Sarkopenie eingetreten ist. In deutschen Praxen ist das leider kein Thema.

ZEIT: Viele Menschen haben Angst, dass Sport im Alter Arthrose fördert.

Froböse: Das ist falsch. Unterforderung macht Arthrose, weil die Strukturen des Gelenkes nicht mehr ausreichend versorgt werden. Gelenke hängen am Tropf der Bewegung! Das gilt sowohl für die Knorpel- als auch die Knochenstrukturen. Astronauten verlieren ohne Schwerkraft pro Monat zwei Prozent Knochenmasse. Auch den meisten sitzenden Menschen fehlt Schwerkraft.

ZEIT: Wir leben zu astronautisch?

Froböse: Ja, der Knochenstoffwechsel wird durch Schonung reduziert. Seine Festigkeit erhält der Knochen durch Stoßbelastung – Hüpfen, Springen, Tanzen, Laufen. Ein Knochen erneuert sich permanent, aber dafür braucht er Belastung.

ZEIT: Welches Training empfehlen Sie für Ü60?

Froböse: Je oller, desto doller. Je älter wir werden, umso größer sollte die Belastung zum Erhalt der Muskulatur sein.

ZEIT: Krafttraining statt Sitzyoga?

Froböse: Ja, schnelle explosive Bewegungen trainieren. Altern ist keine Krankheit. Altern ist ein ganz normales, zum Leben gehörendes Phänomen.

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