Arbeitssucht: "Mit voller Kraft am Kern vorbei"

Autor*innen
Anne Kremer
Ein Mann befindet sich an der Unterseite eines fliegenden Spaceshuttles und salutiert.

Mehrere Hunderttausend Arbeitssüchtige leben Schätzungen zufolge in Deutschland. Herr K. ist einer von ihnen – und hat mit e-fellows.net anonym über seine Krankheit gesprochen. Woher kommt Arbeitssucht? Woran erkennt man sie? Und was ist der Unterschied zu Hochleistung? Im Interview steht der 49-Jährige Rede und Antwort.

Herr K., Sie sind Mitglied der "Anonymen Arbeitssüchtigen" (AAS). Können Sie erklären, was Arbeitssucht ist und was einen Arbeitssüchtigen von einem Hochleister unterscheidet?

Der wesentliche Unterschied ist in meinen Augen – und ich kann nur für mich sprechen –, dass Arbeitssüchtige im Gegensatz zu "gesunden" Hochleistern arbeiten, um sich selbst nicht zu spüren. Wie bei anderen stofflichen oder nicht-stofflichen Süchten wird der Suchtstoff oder ein Verhalten eingesetzt, um von etwas anderem abzulenken. Wenn ich also arbeite, um etwas in mir selbst aus dem Weg zu gehen – Trauer, Leere, Scham, Überforderung zum Beispiel –, dann bin ich auf dem besten Weg in eine Arbeitssucht.

Ein zweites wichtiges Anzeichen für eine Arbeitssucht ist meines Erachtens, wenn das Sozialleben stark unter dem Arbeitspensum leidet, wenn man nur noch Kontakt mit Kollegen hat statt mit Freunden, Familie oder einem Partner. Arbeit kann auch hier unbewusst eingesetzt werden, um einer Konfrontation mit sich selbst aus dem Weg zu gehen – denn soziale Kontakte stoßen immer auch eine Auseinandersetzung mit sich selbst an.

Arbeitssucht definiert sich also nicht in erster Linie über die Menge an geleisteter Arbeit?

Nein. Ich halte es durchaus für möglich, dass jemand 60 Stunden arbeitet und trotzdem nicht arbeitssüchtig ist. Andererseits stimmt es natürlich, dass Arbeitssüchtige oft sehr viele Stunden schuften: Nur so erfüllt die Arbeit ihren krankhaften Zweck, von etwas anderem abzulenken.

Aber man darf nicht vergessen, dass Arbeitssucht auch ein anderes, komplementäres Gesicht hat, nämlich die nicht minder gefährliche Arbeitsvermeidung. Gemeint ist damit, dass Arbeitssüchtige neben all der Schufterei im Job die Arbeit an anderen wichtigen Lebensbereichen vermeiden – aus Antriebslosigkeit, aus Angst vor dem Scheitern, vor Abwertung oder vor der Begegnung mit sich selbst. Das kann die Partnersuche betreffen, die Gesundheitsvorsorge oder, wie bei mir, die Auseinandersetzung mit eigenen Bedürfnissen wie dem Erholungsbedürfnis. Dadurch verpassen Arbeitssüchtige den lebendigen Teil ihres Daseins.

Krank ist man mit diesen Verhaltensmustern in den Augen der Schulmedizin aber noch nicht?

Jein. Wenn jemand mit Symptomen der Arbeitssucht zum Arzt kommt, könnte der ihn tatsächlich nicht mit der Diagnose "Arbeitssucht" krankschreiben. Aber gute Ärzte nehmen es trotzdem ernst, wenn Patienten sich selbst und anderen eine Gefahr sind. Sie können Arbeitssucht dann umschreiben – beispielsweise als Depression –, um ihren Patienten Zeit für eine (stationäre) Therapie zu verschaffen.

Woher kommt Arbeitssucht? Gibt es bestimmte Charakterzüge, die diese Verhaltensstörung begünstigen?

Ja. Und – frei nach Sigmund Freud – hängen viele dieser Eigenschaften wiederum mit der Kindheit zusammen. Ein Beispiel wäre, wenn ich als Kind oft Dinge als ungerecht empfunden habe: Dann ist es wahrscheinlich, dass ich als Erwachsener dazu neige, sehr rechthaberisch und ichbezogen zu werden. Diese Eigenschaften können in die soziale Isolation treiben und damit einer Arbeitssucht in die Karten spielen.

Dominanz wäre also ein Wesenszug, der eine Arbeitssucht begünstigt. In Ratgebern ist auch die Rede von leistungs-, wettbewerbs- und kontrollorientierten Persönlichkeiten und von der Verknüpfung von Anerkennung und Leistung in der Kindheit…

Das ist ein ganz wichtiger Punkt unseres Gesprächs: Wenn ein Mensch – und das ist nur meine amateurpsychologische Erklärung, die aber auf mich auf jeden Fall zutrifft – als Kind nicht die Liebe bekommt, die er gerne hätte, dann versucht er oft, etwas zu leisten, um geliebt zu werden. Solche Menschen sehen Leistung als Weg, die Anerkennung und Liebe zu bekommen, nach der sie sich sehnen. Das Fatale aber ist – und das sage ich jetzt auch auf die Gefahr hin, zu klingen wie Pfarrer Sommerauer: Wahre Liebe ist bedingungslos! Das ist der Knackpunkt! Ich kann mich wortwörtlich totarbeiten, aber bedingungslose Liebe, die ich damit anstrebe, lässt sich nicht erarbeiten.

Gab es neben solchen Anlagen in Ihrer Persönlichkeitsstruktur auch ein konkretes "Triggererlebnis", das die Arbeitssucht hat akut werden lassen?

Ja, das gab es, als ich 26 Jahre alt war. Damals haben sich meine Eltern nach 35 Jahren Ehe getrennt. Eigentlich hätte mich das gar nicht mehr tangieren dürfen, denn ich war ja schon längst aus dem Haus. Aber die Tatsache, dass ich zwischen meinen Eltern stand und nichts tun konnte, um ihren Konflikt zu schlichten, hat mich so gestresst, dass ich in die klassischen Verhaltensmuster eines Arbeitssüchtigen gerutscht bin.

Wie sah das aus?

Ich habe buchstäblich Tag und Nacht gearbeitet. Ich hatte gerade ein Trainee-Programm absolviert, arbeitete im Handel und war verantwortlich für 140 Mitarbeiter. Aber neben diesem Tagesjob habe ich auch nachts gearbeitet, bin zum Beispiel Taxi gefahren oder habe Wachdienste gemacht. Das alles tat ich bewusst, um Schlaf zu vermeiden: Denn der Schlaf hätte mich mit meinem Unbewussten konfrontiert.

Wie ging es Ihnen während der Arbeit? Haben Ihnen die verschiedenen Tätigkeiten in irgendeiner Weise Spaß gemacht, oder waren sie eine bloße Vermeidungsstrategie – nur das geringere Übel also, weil Nicht-Arbeiten noch schlimmer gewesen wäre?

Sowohl als auch: Ich würde nicht von Glücksmomenten sprechen, aber ich habe einerseits ja gutes Geld verdient, eine Wohnung gekauft, ein Haus gebaut – ich hatte also durchaus das Gefühl, etwas zu erreichen. Das unterschied die Arbeit auch vom Konflikt meiner Eltern, in den ich mit Gewalt reingezogen wurde und an dem ich nichts ändern konnte: ein unerträgliches Gefühl.

Andererseits aber war die Arbeit auch bloße Linderung. Die reine Aktivität – egal, welcher Art – hat bewirkt, dass ich nicht mehr an diesen Konflikt denken musste. In dem Moment war mir diese Linderung sehr recht, aber ich habe natürlich auch gespürt, dass Arbeiten keine Dauerlösung ist. Schlafentzug führt ja zu sehr starken Wahrnehmungsveränderungen: Man ist unterwegs wie mit ein paar Promille. Ich wusste also, dass ich mit diesem Verhalten mich selbst und andere gefährde. Dass ich mit meinem Leben spiele und auch damit bezahlen könnte.

Die meisten Arbeitssüchtigen wissen also, dass sie ein Problem haben?

Absolut. Soziale Defizite und mangelnden Kontakt mit sich selbst kann man lange Zeit mit wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Prestige verdrängen. Aber ich bin mir sehr, sehr sicher, dass die meisten Süchtigen tief in sich selbst wissen, dass etwas nicht stimmt. Und ich bin mir auch sicher, dass jeder Süchtige sich dem Problem auf kurz oder lang stellen muss.

Es mag zwar sein, dass es einige wenige Menschen gibt, die vollkommen berauscht sind von ihrer Krankheit und sehr lange überhaupt nicht merken, dass sie ein zwanghaftes Verhältnis zur Arbeit haben. Aber auch für diese Menschen kommt irgendwann der Knall, der alles verändert: ein Unfall, eine Trennung, eine schwere Krankheit. Bei mir war das anders: Mir war immer schon bewusst – mal mehr, mal weniger –, dass ich mir selbst und anderen gerade erheblichen Schaden zufüge.

An welchen Schaden für andere denken Sie da?

Es ist eine irrige Auffassung, zu glauben, dass ein Mitarbeiter, der sich selbst aufgibt, einem Unternehmen langfristig nützt. Das Gegenteil ist der Fall! Wer sein Leben für seinen Job aufgibt, fügt über kurz oder lang dem Unternehmen wirtschaftlichen Schaden zu.

Warum?

Der Arbeitssüchtige verballert viel zu viel Energie, weil er nicht priorisieren kann: Für ihn steht die Menge der geleisteten Arbeit im Fokus, nicht die Priorität einer Aufgabe mit Blick auf die Unternehmensziele. Dadurch ist er massiv uneffektiv, geht mit voller Kraft am Wesentlichen vorbei. Arbeitssüchtige Führungspersonen verbrennen außerdem nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Leute: Denn wenn es erklärtes Ziel ist, möglichst viel irgendwie zu schaffen, werden Aufgaben auch massenweise delegiert. Mitarbeiter, die mehr Fokus haben als der Arbeitssüchtige, sind natürlich entsprechend frustriert, so viele teils so unsinnige Aufgaben aufgeladen zu bekommen.

Wenn ich ein größeres Unternehmen hätte, würde ich heute also sofort eingreifen, wenn ich bei Mitarbeitern Probleme im Umgang mit Arbeit beobachte: nicht nur aus Sorge um das Personal, sondern auch aus Sorge um die Firma.

War es so auch bei Ihnen? Hat Sie jemand auf Ihre Arbeitssucht angesprochen, als Sie sich entschlossen, Hilfe zu suchen?

Nein, aber indirekt kam der Impuls für eine Therapie schon von außen. Das war mit Ende zwanzig, als ich meiner hohen Personalverantwortung immer weniger gerecht geworden bin. Man hat mich zwar nicht rausgeworfen, aber mein Arbeitgeber und ich haben uns, wie man so schön sagt, in beiderseitigem Einvernehmen getrennt. Auf der Suche nach Antworten habe ich eine Therapie begonnen, die mir auch geholfen hat. Arbeitssucht stand dabei aber nicht im Fokus.

Mit 30 habe ich dann zufällig einen Artikel über Arbeitssucht gelesen: Alles, was dort beschrieben wurde, traf auf mich zu. Daraufhin habe ich Kontakt zu den Anonymen Arbeitssüchtigen aufgenommen und bin seitdem Mitglied der Gruppe. Ich möchte klassische, kassenfinanzierte Heilungswege keineswegs diskreditieren, aber für mich steht fest, dass ich meinen heutigen Status AAS zu verdanken habe. Dass ich heute relativ gesund, wohlhabend und zufrieden bin, meinen Lebensunterhalt bestreite, eine Frau und ein Kind habe, hängt wesentlich mit meinem Besuch der Meetings von AAS zusammen.

Wieso?

Das 12-Schritte-Programm von AAS bewältigt Probleme nicht rein kognitiv. Es ist ein spirituelles Programm, das aber nicht (!) an irgendein klassisches Gottesbild geknüpft ist. Genau dieser spirituelle Aspekt war wesentlich für meine Genesung; die Frage, was für einen Menschen die Höhere Macht ist, ist Teil des Heilungswegs. Und jeder Betroffene, der schon einmal an die Grenzen seiner Existenz kam, wird diese Frage als real erleben.

Wie sieht diese spirituelle Form der Bewältigung Ihrer Arbeitssucht aus?

Ich bin überzeugt, dass die Höhere Macht mir die Sucht gegeben hat, um daraus zu lernen. Ein positives Nebenprodukt der Arbeitssucht ist also, dass ich mich immer wieder mit der Frage konfrontiere: Ist das, was ich mache, das, was ich machen soll? Was ist mein Job – im Beruf, aber auch auf der Erde? Es soll kein esoterisches Fachgespräch werden, aber wenn ich mit der Arbeitssucht bewusst umgehe, kommt der positive Nebeneffekt zum Tragen – und die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch, dass ich im Leben das mache, was mir, meinen Fähigkeiten, meiner Bestimmung entspricht. Ich will nicht schon wieder klingen wie Pfarrer Sommerauer, aber es gibt den Spruch: "Die höchste Form der Selbstverwirklichung ist die, dass man Gottes Willen erkennt und danach lebt." Und das ist auch meine Meinung.

Sie werden in diesem Jahr 50. Wieso beschäftigt Sie das Thema Arbeitssucht immer noch, wo Sie doch schon vor 20 Jahren zu AAS gekommen sind? 

Weil man aus meiner Sicht sein Leben lang arbeitssüchtig bleibt. Man kann ein Genesender werden, aber kein Genesener. Deswegen richtet sich das AAS-Programm auch immer nur auf die nächsten 24 Stunden. Nicht arbeitssüchtig zu sein ist ein Tagwerk: Es ist nicht anders, als wenn ich mir vornehme, heute ein Zimmer zu streichen.

Das heißt, es gab in Ihrem Leben schlimmere und weniger schlimme Phasen, aber die Arbeitssucht war nie ganz weg?

Nein, und sie wird auch nie weg sein. Den Satz: "So, jetzt habe ich das Thema Arbeitssucht erledigt" habe ich von einem Süchtigen noch nie gehört. Ich gehe davon aus, dass mich das Thema Arbeitssucht beschäftigen wird, bis ich sterbe.

Ist das nicht eine sehr bittere Aussicht?

Die Frage ist, wie ich damit umgehe: Verdränge ich meine Arbeitssucht oder arbeite ich an ihr beziehungsweise an mir? Dann kann Arbeitssucht sogar eine Bereicherung meines Lebens sein, weil ich mich mit mir selbst auseinandersetze.

Haben Sie Ihre Arbeitssucht je einem Arbeitgeber gegenüber angesprochen?

Nein. Wenn ich meinem Chef davon erzählen würde, wäre die Gefahr sehr groß, dass diese Information gegen mich verwendet wird, sobald ich einen Fehler mache. Ganz ohne bösen Willen – ich habe eigentlich ein gutes Verhältnis zu meinem Chef. Aber die Gesellschaft hat insgesamt noch einen zu weiten Weg vor sich, als dass ich jetzt schon zu meiner Arbeitssucht stehen könnte.

Was wünschen Sie sich von der Gesellschaft im Umgang mit Arbeitssucht?

Erst einmal wünsche ich mir einen offeneren Umgang mit dem Thema: Nur, wenn in den Medien genug über Arbeitssucht und ihre Entstehung berichtet wird, sehe ich eine Chance, dass suchtfördernde Strukturen nach und nach abgebaut werden. Ich bin mir aber sicher, dass das Thema in den kommenden Jahren erheblich an Fahrt aufnehmen wird, denn die beruflichen Rahmenbedingungen in Deutschland werden immer suchtfördernder.

Die digitale Revolution beispielsweise ermöglicht es, rund um die Uhr zu arbeiten, ohne dass es die Kollegen überhaupt mitbekommen. Parallel nehmen die geistigen Herausforderungen zu, die Unsicherheiten wachsen; soziale Beziehungen leiden unter Zeitverträgen, Projektarbeit, wechselnden Arbeitszeiten und -orten. Eigentlich müsste also jeder Einzelne mehr denn je Techniken für sich erarbeiten, um runterzukommen. Aber der Mensch bleibt eben der Mensch …

Ich wünsche mir außerdem, dass mehr Entscheider unser vermeintliches Leistungs- und Effizienzideal hinterfragen. Momentan ist jemand, der viel arbeitet und viel Scheiße baut, leider meist noch höher angesehen als jemand, der um sechs Uhr Feierabend macht und zu seinem Erholungsbedürfnis steht. Das ist zu kurz gedacht!

Was glauben Sie, wann ein Umdenken einsetzen wird?

Ich will nicht pessimistisch klingen, aber es sollte mich sehr wundern, wenn sich an dieser Mentalität zu meinen Lebzeiten etwas wesentlich ändert. Umdenken passiert erst, wenn Matthäi am Letzten ist.

Zum Schluss würde ich Sie bitten, fünf Aussagen zu vervollständigen. Die erste wäre: "Ich sollte mich mit meiner Arbeitssucht auseinandersetzen, weil ..."

… es eine frohe Botschaft gibt! Wenn ich mich meinen Problemen stelle, kann ich die Sucht in etwas Positives umwandeln. Die Auseinandersetzung mit sich selbst bedeutet keine Katastrophe. Man öffnet damit keine Büchse der Pandora! Vielleicht tut es weh, zum ersten Mal hinzuschauen – aber die weitere Auseinandersetzung ist eine Bereicherung.

Ich sollte mir professionelle Hilfe suchen, wenn …

… ich selbst den Eindruck habe, dass ich mir mit meinem Arbeiten körperlich und seelisch schade.

Für mich selbst bereue ich an meiner Krankheit am meisten, …

Dass ich so lange keine Möglichkeit hatte, zur Ruhe und zu mir selbst zu kommen.

Es tut mir für andere am meisten Leid, …

Dass ich ihnen durch meine Abwesenheit geschadet habe: vor allem meinem Kind und direkten Angehörigen.

Hätte ich mir damals nicht helfen lassen, dann …

Das kann ich schon so dramatisch sagen: Dann weiß ich nicht, ob ich heute noch auf der Welt wäre.

Herr K., wir danken für das Gespräch.

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