Psychologie: Hast du den Gorilla gesehen?
- Pascal Thommen
Unser Gehirn spielt uns in vielen Situationen einen Streich: Vieles fällt uns nicht bewusst auf. Doch die selektive Wahrnehmung hat auch Vorteile.
Das Video zeigt, wie sich sechs Jugendliche zwei Basketbälle zuspielen. Die eine Hälfte von ihnen trägt weiße Klamotten, die andere Hälfte schwarze. Nun sollen die Zuschauer:innen zählen, wie oft sich die in weiß gekleideten Spieler unter ständiger Bewegung den Ball zuwerfen. Plötzlich kommt ein Mensch im Gorilla-Kostüm ins Bild, läuft zwischen den Spielern hin und her und verschwindet wieder. 15 Pässe spielten sich die weiß gekleideten Jugendlichen. Einige Zuschauer:innen kamen auch auf das richtige Resultat. Doch wie viele Versuchsteilnehmer:innen haben den Gorilla gesehen?
Dieser Test stammt von den beiden Psychologie-Professoren Daniel J. Simons und Christopher Chabris – das zugehörige YouTube-Video wurde bereits millionenfach angeklickt. Das Experiment soll die selektive Wahrnehmung unseres Gehirns veranschaulichen. Wenn wir eine konkrete Aufgabe erhalten, fokussieren wir uns nur auf deren Erfüllung und blenden alles andere aus. Das Phänomen nennt sich selektive Wahrnehmung und begegnet uns in vielen Facetten des Lebens. Wir sehen oft nur das, was wir sehen wollen. Würden wir das Basketball-Video ohne konkrete Aufgabe anschauen, würden wir den Gorilla wohl sofort entdecken.
Ist der blinde Fleck Segen oder Fluch?
Nun, gewissermaßen beides. Dass unser Gehirn sich nur auf gewisse Dinge konzentrieren kann, klingt erstmal nicht so toll. Dabei schützt dieser "blinde Fleck" unser Gehirn vor einer Informationsüberlastung. Es geht jedoch um mehr als die visuelle Wahrnehmung. Das Phänomen beeinflusst letztendlich auch unser Denken und unsere Entscheidungen. Und genau das ist die Kehrseite der Medaille: Denn es besteht die Gefahr, dass man sich auf die bereits bestehenden Urteile verlässt. Das nennt sich "confirmation bias". Wenn du eine vorgefertigte Meinung hast, suchst du nur nach Argumenten die deine Hypothese bestätigen. Gegenargumente werden im Umkehrschluss ausgeblendet.
Woher kommen diese Wahrnehmungsfilter?
Es gibt verschiedene Ursachen für die selektive Wahrnehmung. Ein Grund liegt in unserer Sozialisation: Zum einen sind unsere Vorstellungen von Meinungen und Werten geprägt, die wir in der Erziehung mit auf den Weg bekommen haben. Auch unsere Erwartungshaltung wirkt in bestimmten Situationen auf unsere Wahrnehmung ein. Ein weiterer Grund liegt in unserer emotionalen Ausgangslage. Fühlen wir uns zufrieden, so fallen uns schöne Dinge viel eher auf, als wenn wir betrübt sind. Besonders starke Emotionen können dabei sowohl deine Gefahrenrealisierung schärfen als auch deine Wahrnehmung verzerren. Im Fall von starker Prüfungsnervosität wiederum kann die Angst lähmend sein und man verkrampft. Denn dein Denken engt sich auf den Gegenstand deiner Angst ein und du interpretierst Situationen im Zweifelsfall eher so, dass du auf der sicheren Seite bist und dadurch aber wiederum anfällig für Fehlinterpretationen und eine selektive Wahrnehmung bist.
Was wir wahrnehmen ist auch situationsabhängig. Wenn wir uns mit einem guten Freund unterhalten, so sind wir viel entspannter und gelöster, als wenn wir vor einer großen Menschenmenge eine Präsentation halten. Dementsprechend werden wir in Stresssituationen auch blind für gewisse Dinge – zum Beispiel wenn jemand im Publikum total gelangweilt gähnt. Nicht zuletzt wirken sich auch demografische Faktoren wie Alter und Geschlecht auf die Wahrnehmung aus.
Was die selektive Wahrnehmung für dich bedeutet
Das Phänomen der selektiven Wahrnehmung begegnet dir vielleicht auch als Vorlesungsthema. Studierende der Kommunikations- und Medienwissenschaften stellen es in den Kontext der medialen Reizüberflutung. Ohne einen Wahrnehmungsfilter stieße unser Gehirn in Zeiten von ständig aufpoppenden Werbeanzeigen in den sozialen Medien schnell an seine Belastungsgrenze. Aber auch den Jurist:innen dürfte die selektive Wahrnehmung etwa im Rahmen des Strafrechts untergekommen sein. In der Jurisprudenz gilt es beispielsweise abzuwägen, inwiefern Zeugenaussagen zu trauen ist, deren Wahrnehmung von der Realität stark abweichen kann.
Im späteren Berufsleben müssen sich Führungskräfte die "Einschränkung" der eigenen Wahrnehmung bewusst machen, wenn es um die Leistungsbeurteilung von Mitarbeitenden geht. So können einzelne Vorfälle mit einem überproportionalen Gewicht in die Mitarbeiterbeurteilung einfließen und diese verzerren. Ebenso kann in einem Assessment Center der oder die auffälligste Kandidat:in die ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen und so von Kandidat:innen ablenken, die eigentlich besser ins Jobprofil gepasst hätten.
Interessanterweise schützt auch Erfahrung nicht vor einem Wahrnehmungsfilter. In einem dem Gorilla-Experiment ähnlichen Versuchsaufbau wurden Radiolog:innen gebeten, Lungenscans auf Krebsanzeichen zu untersuchen. Im letzten Lungenscan war ebenfalls eine Gorilla-Abbildung integriert. Von den 24 Testpersonen erkannten nur vier Radiolog:innen den Gorilla. Gerade in solchen Situationen kann eine Wahrnehmungsverzerrung fatale Folgen haben.
Wie kann ich mit der selektiven Wahrnehmung umgehen?
Gleich vorneweg: Einfach einen Knopf drücken und die Wahrnehmungsverzerrung ausschalten, funktioniert natürlich nicht. Aber du kannst dich in konkreten Situationen fragen, was du genau siehst und was du möglicherweise ausblendest. Lös dich von deiner "Ich-Bezogenheit" und überleg dir, wie andere die gleiche Situation wahrnehmen könnten. Geh einen Schritt zurück und frag dich, wie eine gewisse Entscheidung von dir zustande gekommen ist und durch was sie beeinflusst wurde.
Wie steht´s um deine Wahrnehmung? Bestimmt hast du schon sogenannte Kippbilder (auch Vexierbilder genannt) gesehen, welche jeweils zwei unterschiedliche Dinge zeigen. Teste dich selbst und find heraus, inwiefern dein Gehirn dich nur einen Teil des Gesamtbildes wahrnehmen lässt: