Spitzensport: Der Siebenkampf deines Lebens

Autor*innen
Max Rauner
Frau sprintet einem Ziel entgegen

Wer bei Olympia antritt, braucht mentale Superkräfte. Hier verraten Athletinnen und Sportpsychologen, was wir vom Spitzensport für den Alltag lernen können.

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Der olympische Siebenkampf beginnt mit 100 Metern Hürdenlauf. Es folgen Hochsprung, Kugelstoßen und 200 Meter Sprint. Am nächsten Tag Weitsprung, Speerwurf und zum Schluss die 800 Meter. Aber da sind noch mehr Disziplinen. Sie sind unsichtbar und stehen in keinem Regelwerk. Ohne sie ist Gewinnen so gut wie unmöglich. Konzentration, Resilienz und Motivation gehören dazu. Das Mentale. Die Kopfsachen.

Jens Kleinert leitet das Psychologische Institut der Deutschen Sporthochschule in Köln und hat Erfahrungen als Trainer, als Sportpsychologe, als Sportler. Er sagt: "Das Körperliche ist natürlich die Grundlage, außerdem Technik und Strategie einer Sportart. Aber um alles im richtigen Moment abrufen zu können, braucht es den Kopf. Der steuert, mit welcher Inbrunst und in welcher Gefühlslage ich antrete."

Mentale Stärke braucht man nicht nur im Finale von Olympia, sondern auch im Training, um sich immer wieder neu zu motivieren. Und vor allem dann, wenn es nicht so gut läuft. Der Spitzensport ist wie ein Psycholabor. Hier wurde das psychische Rüstzeug entwickelt, um Niederlagen zu verdauen und Druck auszuhalten.

Von den Erkenntnissen können wir alle profitieren. Für diese Recherche haben Olympionikinnen und Sportpsychologen ihre mentalen Techniken offengelegt. Für den Siebenkampf des Lebens. Fertig? Los!

Motivation

Christiane Reppe hatte verloren, bevor sie gestartet war. Bei den Paralympischen Sommerspielen in Rio de Janeiro hatte sie 2016 noch Gold im Handbike-Rennen gewonnen (Handbikes sind Liegeräder mit Handkurbeln). Anschließend trainierte sie ein Jahr lang für ihren nächsten großen Traum: Doppelgold bei der Weltmeisterschaft 2017 in Südafrika. Im Straßenrennen wie im Einzelzeitfahren zählte sie zu den Favoritinnen. Doch zwei Wochen vor der Abreise stellte sich heraus: Der Verband hatte vergessen, sie anzumelden.

"Ich hätte sagen können: O Gott, alle sind gegen mich, und das ist alles so schlimm", sagt Reppe heute. "Stattdessen habe ich mir gesagt: Ich akzeptiere das jetzt. Es ist ein Schock, aber ich fahre da trotzdem mit hin." Wozu? Um die anderen anzufeuern.

In der Psychologie gibt es den Ansatz der radikalen Akzeptanz: Nimm die Realität so an, wie sie ist, ohne sie zu bewerten. Das bedeutet nicht, dass man resigniert. Sondern dass man sich bewusst dafür entscheidet, auch die schmerzhaften Erfahrungen und Gefühle anzuerkennen, um dann konstruktiv mit ihnen umzugehen. Glücklich ist, wer vergisst, was doch nicht zu ändern ist.

Christiane Reppe hat nur ein Bein, das linke. Als sie fünf Jahre alt war, entdeckten Ärzte im rechten Bein einen bösartigen Tumor und rieten zur Amputation. Heute ist Reppe 36 Jahre alt und hat schon dreimal die Sportart gewechselt. Angefangen mit Schwimmen (Bronze bei den Paralympics in Athen 2004), dann Radsport (Gold in Rio 2016), dann Paratriathlon (WM-Dritte 2019). Nebenher absolvierte sie ein BWL-Studium. Anschließend gründete sie eine Firma und verließ sie wieder.

Manchmal machen Menschen ihr Komplimente. Wie sie das alles schaffe, toll! Sie könne die Reaktion verstehen, sagt Reppe. "Aber es gibt keinen Grund für Mitleid, weil ich alles machen kann. Ich habe einfach nur ein Bein, mehr ist es nicht." Kurzfristige Ziele seien superwichtig, sagt sie. Klar, große Ziele sind auch nicht verkehrt. Bei Olympia eine Medaille gewinnen zum Beispiel. Marktführer werden. Ein Haus bauen. Die Welt retten. Aber ohne etwas kürzere Etappenziele leidet die Motivation. Reppe hat von ihrem Handbike-Trainer stets Pläne für die kommenden zwei bis drei Wochen bekommen. Alle drei bis vier Monate stand ein Leistungstest auf dem Plan. Einmal im Jahr die WM. Alle vier Jahre Olympia.

Ziele sollten "smart" sein, heißt es aus der Psychologie: spezifisch, messbar, anpassbar, realistisch, termingebunden. Die Konstanzer Psychologin Julia Schüler gibt im Handbuch Sportpsychologie ein Beispiel: "Ich will einen Halbmarathon laufen" ist ein schlechtes Ziel. Zu vage. Motivierender sei das Ziel: "Es soll der Halbmarathon in Zürich sein, den ich in einer Zeit unter zwei Stunden laufen will (spezifisch). Ein Teilziel ist, dass ich bis Ende dieses Monats eine Stunde am Stück laufen kann, in drei Monaten zwei Stunden am Stück. Im vierten bis sechsten Monat will ich besonders an der Lauftechnik und an der Geschwindigkeit arbeiten (kurzfristige Teilziele). Mein Ziel ist es, im Training ein gutes Laufgefühl zu entwickeln (Prozessziel) und mit meiner Leistung in Zürich etwa im Mittelfeld zu liegen (Ergebnisziel)."

Wenn die Ziele zu hoch gesteckt sind, bewirken sie das Gegenteil. Sie demotivieren, denn dann dominiert die Versagensangst. Von solchen Zielen sollte man Abschied nehmen, rät Schüler. Du kannst alles schaffen? Nein. Manchmal eben nicht.

Die Olympionikin Christiane Reppe sagt, gerade im Job habe sie gelernt, eine Leiter nicht nur an die Wand zu stellen und schnell hochzuklettern. "Wichtiger ist, zu gucken, an welche Wand ich die stelle." Das nächste Ziel ist eine Weiterbildung, danach möchte sie wieder gründen.

Bei der Weltmeisterschaft in Südafrika hat sie am Ende doch noch beide Goldmedaillen gewonnen. Das hatte allerdings weniger mit der Psychologie zu tun als mit ihrem Vater. Drei Tage vor dem Rennen, sie war schon vor Ort, erlaubte der Weltverband überraschend ihre Nachmeldung. Christiane Reppe war allerdings ohne ihr Handbike angereist. Ihr Vater setzte sich ins nächste Flugzeug und brachte es ihr.

Ausdauer

Sanni Beucke zählt zu den besten Seglerinnen der Welt. Sie hat bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 zusammen mit Tina Lutz die Silbermedaille gewonnen – in der Bootsklasse 49er FX, einer Art Formel-1 des Jollensegelns. Dann wechselte sie zum Hochseesegeln. Über die Hochs und Tiefs auf ihrem Weg hat sie das Buch "Gegen den Wind" geschrieben.

ZEIT WISSEN: Sie trainieren für die härteste Regatta der Welt, die Vendée Globe. Was ist daran hart?

Sanni Beucke: Man segelt allein um die Welt und passiert die gefährlichsten Seegebiete, die es gibt. Wochenlang ist man auf sich gestellt. Wenn im Südpolarmeer etwas passiert, dauert es Tage, bis Hilfe da ist.

ZEIT WISSEN: Kevin Escoffier, mit dem Sie eine Etappe beim Ocean Race gesegelt sind, wäre bei der letzten Vendée Globe im Südpolarmeer fast umgekommen, weil sein Boot durchgebrochen ist. Wie bereiten Sie sich auf solche Szenarien vor?

Beucke: Darauf kann man sich nicht vorbereiten. Man muss darauf vertrauen, dass man den richtigen Instinkt zur richtigen Zeit hat und dann alles aus sich herausholen kann. Kevin hat innerhalb von Minuten genau das Richtige getan …

ZEIT WISSEN: … SOS gefunkt und die Rettungsinsel aktiviert.

Beucke: Und deswegen hat er überlebt. Aber natürlich, man muss verrückt sein, um an so einem Rennen teilnehmen zu wollen. Und viel Vertrauen haben, dass es gut ausgeht.

ZEIT WISSEN: Woher haben Sie Ihre Hartnäckigkeit?

Beucke: Ich bin an der Ostsee aufgewachsen und hatte schon immer ein extrem starkes Bedürfnis, aufs Wasser zu kommen. Olympia hat mich natürlich motiviert, aber ich habe danach nicht mit dem Segeln aufgehört.

ZEIT WISSEN: Was haben Sie als Olympionikin über Ausdauer gelernt?

Beucke: Manche Leute sind frustriert, wenn sie ein Ziel in einem halben Jahr nicht erreicht haben. Für mich hat Olympia 15 Jahre gedauert. Nach dem zweiten Versuch, mich zu qualifizieren, dachte ich, das wird nichts mehr. Noch mal vier Jahre trainieren. Aber dann habe ich am eigenen Körper erlebt, wie es ist, wenn man nicht aufgibt und am Ende mit einer Medaille nach Hause kommt. Ich habe verinnerlicht, dass wahrer Erfolg lange dauert. Man muss viele Berge und Täler durchlebt haben, um sich wirklich gut nennen zu dürfen. Und es geht weiter so auf und ab. Ich bin nicht vom Ergebnis motiviert, ich liebe den Prozess.

ZEIT WISSEN: Welchen Rat haben Sie für uns Nicht-Olympioniken?

Beucke: Ein Ziel zu verfolgen, ist anstrengend, weil es Veränderung bedeutet. Deshalb würde ich mir überlegen, welche ein, zwei Ziele einem wichtig sind. Sonst steckt man sich zu viele Ziele und erreicht am Ende keines davon. Also aussortieren, was unwichtig ist. Und dann seinen Zielen treu bleiben.

ZEIT WISSEN: Was ist Ihr großes Ziel?

Beucke: Immer ankommen, egal auf welchem Platz.

Fokus

Im Spitzensport zählt jede Sekunde. Man darf nicht den Fokus verlieren und muss im entscheidenden Moment seine Gedanken bündeln wie ein Laserpointer das Licht. Michael Phelps schien als kleiner Junge nicht das größte Talent dafür zu haben. Seine Mutter Deborah erinnerte sich später an die Worte der Erzieherinnen im Kindergarten: Michael kann nicht still sitzen, er kann nicht ruhig sein, er kann sich nicht konzentrieren. In der Grundschule meinte eine Lehrerin: "Ihr Sohn wird sich niemals auf irgendetwas konzentrieren können."

So kann man sich irren. Der Schwimmtrainer Bob Bowman schenkte Michaels Mutter ein Buch über progressive Muskelentspannung. Abends übte sie mit ihrem Sohn, sich zu entspannen. Außerdem lernte Michael, sich mithilfe von Visualisierung auf Wettkämpfe vorzubereiten. Er spielte Rennen in Gedanken mal aus der eigenen Perspektive durch, mal aus Zuschauersicht. Er stellte sich vor, was schiefgehen könnte, etwa dass vor dem Start der Schwimmanzug einreißt. Phelps wurde der erfolgreichste Olympionike aller Zeiten: Er gewann 28 Medaillen, davon 23-mal Gold.

"Das Wichtigste, was mich während meiner gesamten Karriere ausgezeichnet hat, war meine mentale Stärke", sagte Phelps später, "alles, was zwischen den Ohren passiert." Einen Monat vor wichtigen Wettkämpfen begann er damit, sich vorzustellen, was im Rennen passieren könnte, was passieren sollte, was nicht passieren sollte. Bob Bowman sagte: "Die Visualisierung muss möglichst lebendig sein und sehr oft wiederholt werden. Wenn Michael bei einer WM oder bei Olympia auf dem Startblock steht, ist er das Rennen bereits Hunderte Male im Kopf geschwommen. Der Autopilot springt an, und der Körper weiß, was zu tun ist."

Die Visualisierung aktiviert Motorareale im Gehirn und hilft, Bewegungsabläufe zu perfektionieren. Die Paralympics-Siegerin Christiane Reppe erzählt, dass sie vor wichtigen Straßenrennen die Strecken auf Video aufgenommen hat und später immer wieder in Gedanken abfuhr, um sich die Schlaglöcher einzuprägen. Visualisierung kann auch der Stressbewältigung dienen. Als Reppe beim Semperopernball 2018 in Dresden geehrt werden sollte, sollte sie vor ein paar Tausend Menschen eine Dankesrede halten. "Das habe ich mir immer und immer wieder vorgestellt", sagt sie. "Und genau so war es dann auch."

Selbstgespräche können die Visualisierung unterstützen, sagt der Sportpsychologe Jens Kleinert, das gelte auch für stressige Situationen im Beruf. "Vor einem Meeting, in dem ich einen wichtigen Vortrag halten muss, kann ich mich emotional in eine positive Stimmung bringen." Man sagt sich: Du hast schon oft gezeigt, dass du das kannst, und ruft sich ähnliche Situationen – "Moments of Excellence" genannt – ins Gedächtnis. Man geht die Präsentation in Gedanken durch, wiederholt die wichtigsten Punkte im Einstieg und am Ende.

Die Eiskunstläuferin Aljona Savchenko erzählt, sie habe sich im Training oft vorgestellt, sie würde in einem Wettkampf vor 20.000 Menschen und ihren Lieblingspreisrichtern laufen. "Und andersherum habe ich mir beim Wettkampf vorgestellt, ich wäre im Training, um die nötige Gelassenheit zu haben." Savchenko meldet sich per Videocall von der Eishalle in Chemnitz. Jahrelang hat sie hier trainiert, inzwischen arbeitet sie selbst als Trainerin, gemeinsam mit Robin Szolkowy. Sie hat an fünf Olympischen Spielen teilgenommen. Mit Szolkowy holte sie zweimal Bronze im Paarlauf.

"Körperliche Stärke ist wichtig", sagt sie, "aber die mentale Stärke ist noch wichtiger. Oft habe ich mir Elemente zunächst durch den Kopf gehen lassen und dann erst in mein Laufen übertragen." Einmal durfte sie wegen einer Verletzung zwei Monate lang nicht aufs Eis. Stattdessen übte sie Sprünge im Kopf, während sie die entsprechenden Muskeln anspannte. "Ich kam zurück aufs Eis, und die Leute dachten, ich hätte heimlich woanders trainiert."

Die Olympischen Winterspiele 2018 in Pyeongchang waren Savchenkos letzte Spiele. Vier Jahre lang hatte sie mit Bruno Massot dafür trainiert. Am ersten Tag des Paarlaufs, im Kurzprogramm, springt Massot den Salchow nur doppelt, nicht dreifach. "Das hätte nicht passieren dürfen", ruft der ARD-Moderator, "das ist ’n Klops!" Als die beiden am nächsten Tag zur Kür antreten, liegen sie nur auf Platz vier. Sie behalten die Nerven und laufen die Kür ihres Lebens. Gold!

Eiskunstlauf und Segeln trennen Welten, aber die Seglerin Sanni Beucke nennt diese Kür der beiden als Inspiration: "Ganz oft, wenn es darum ging, etwas perfekt zu machen, habe ich sie mir angeschaut", sagt sie. "Da kriege ich jedes Mal Gänsehaut!"

Resilienz

Als Aljona Savchenko in der Ukraine Eiskunstlauf lernte, beschimpften die Trainer die Mädchen schon mal als "dicke Kühe". Sie sollten abnehmen, um höher springen zu können. Im Trainingslager wurden sie auf Diät gehalten, erinnert sich Savchenko. Wer mit Essen erwischt wurde, musste Strafrunden laufen. Mit 19 Jahren siedelte sie nach Deutschland über. Das Training blieb hart. "Es war immer Arbeit", sagt sie. "Nie wurde gelacht, und wenn du was falsch gemacht hast, hast du halt Anschiss gekriegt." Nachdem sie die Bronzemedaille in Vancouver geholt hatte, sagte ihr Chemnitzer Coach "Der Sieg war möglich, deshalb bin ich so sauer."

Man könnte denken: Großartig, der Druck hat funktioniert. Die Frau hat schließlich 2018 Gold geholt. Denkbar ist aber auch, dass sie nicht wegen, sondern trotz des äußeren Drucks Erfolg hatte. Dank eines dicken Fells. Dank Resilienz. "Ich brauche keinen Extradruck", sagt Savchenko, "ich drück mich schon selber."

Mit Bruno Massot wechselte sie 2014 zu einem neuen Trainer nach Oberstdorf, Alexander König, ein Eislauf-Buddha mit Berliner Zungenschlag. "Ich kannte ihn von einem früheren Wettkampf", sagt Savchenko. "Der hatte so ein warmes Lächeln, dass ich dachte: Da kommt die Sonne. Er begrüßt dich, er schätzt dich, er verbreitet so positive Energie. Solche Menschen zu finden, ist kompliziert. Aber wenn man sie gefunden hat, sollte man ihnen die Treue halten."

Resilienz heißt auch, zu erkennen, welche Menschen einem guttun. Die Kölner Sportpsychologin Johanna Belz spricht vom "Unterstützungsnetzwerk".

Belz empfiehlt das Konzept des Selbstmitgefühls, um mit Druck und enttäuschten Erwartungen umzugehen – egal, ob im Sport oder in anderen Lebenslagen. In einer Studie mit 500 Athletinnen und Athleten hat sie festgestellt, dass rund jede vierte Person unter ihnen ein niedriges Selbstwertgefühl hat. Sie gehen hart mit sich ins Gericht, wenn sie scheitern. "War ja klar, dass das schiefgeht", sagen sie dann zu sich. Oder: "Du bist schlechter als die anderen."

Selbstmitgefühl dagegen heißt, mit sich selbst zu reden wie mit einer guten Freundin. Sich zu trösten: Das kann mal passieren. Das war eine schwierige Situation. Du hast dein Bestes gegeben und kannst daraus lernen. Es ist in Ordnung.

"Selbstmitgefühl hängt ganz eng mit der psychischen Gesundheit zusammen", sagt Belz. Um es zu trainieren, spielt sie mit den Sportlerinnen und Sportlern belastende Situationen durch und übt die Selbstmitgefühlspause. Sie besteht aus drei Teilen.

1. Achtsamkeit. Man horcht in sich hinein: Was nehme ich wahr, was fühle ich?

2. Gemeinsam Mensch sein. Sich bewusst machen: Es geht nicht nur mir so. Ich bin in einer schwierigen Situation nicht allein. Andere sind bei mir.

3. Selbstbezogene Freundlichkeit. Sich freundlich Mut zuzusprechen. Es wird wieder besser. Du machst das richtig gut.

Die Eiskunstläuferin Aljona Savchenko will jetzt in Chemnitz zeigen, dass Erfolg auch durch antiautoritäres Training möglich ist. Sie will ihre Schülerinnen fordern, schon klar, aber sie sollen auch Spaß haben. Von Alexander König habe sie gelernt, gelassener an die Sachen heranzugehen und auch mal weniger zu trainieren. Eine Balance zu finden, sei wichtig, sagt Savchenko: "Die Balance zwischen Ich und Ich."

Teamfähigkeit

Fabian Pels erforscht Teamwork in der Abteilung Soziale Prozesse am Psychologischen Institut der Deutschen Sporthochschule in Köln. Er hat diverse Mannschaften sportpsychologisch betreut, darunter Hockey- und Fußballteams. Sein Spezialgebiet ist Gruppen-Flow: wenn Teamarbeit euphorisch macht.

ZEIT WISSEN: Welches sind häufige Probleme von Teams?

Fabian Pels: Die Rollen innerhalb des Teams sind oft unklar. Wer soll führen, wer soll folgen, wer soll zuarbeiten? Ebenso die Ziele: Was ist das realistische Ziel für das Team, und wie ist das in Einklang zu bringen mit den individuellen Zielen?

ZEIT WISSEN: Was ist daran so schwierig? Das Ziel ist zu gewinnen und die Rollen sind Angriff und Verteidigung. Fertig.

Pels: So einfach ist das nicht. Es gibt ganz unterschiedliche Führungsrollen. Ein task leader trifft zentrale Entscheidungen, etwa ob während die Taktik geändert werden soll. Motivation leaders feuern die anderen an und richten andere Spieler auf, wenn es mal nicht so gut läuft. Social leaders kümmern sich um das soziale Wohl einer Mannschaft, vor allen Dingen auch neben dem Platz. Klaps auf den Rücken, kurzer Zuspruch, "ist doch alles gut, geht weiter". Und der externe Leader vertritt die Mannschaft nach außen. Unterhalb der Führungsebene sind die Wasserträger. Sie sind Zuarbeiter und haben die enorm wichtige Rolle, andere zur Geltung kommen zu lassen.

ZEIT WISSEN: Der Trainer oder die Trainerin kann die Rollen doch verteilen.

Pels: Die Rollen sind nicht starr und können sich sogar während eines Turniers verändern. Bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien war Per Mertesacker zunächst Stammspieler in der Verteidigung. Als dann Philipp Lahm aus dem Mittelfeld auf die Rechtsverteidigerposition abgezogen wurde, hat Mertesacker außerhalb des Spielfeldes alles gegeben, um der Mannschaft zu helfen. Besser, als Rollen zu verordnen, ist es, die Rollen gemeinsam zu erarbeiten. Das erfordert eine enge Begleitung, weil Spieler vielleicht auch feststellen: Meine Mitspieler haben ein ganz anderes Bild von mir als ich selbst.

ZEIT WISSEN: Wer möchte schon gern Wasserträger sein.

Pels: Oh, es gibt Menschen, die total darin aufgehen. Wichtig ist, stillschweigende Annahmen offen zu diskutieren. Die deutsche Basketballnationalmannschaft, die im vergangenen September sensationell die Weltmeisterschaft gewonnen hat, war eine Mannschaft, in der die Rollen klar verteilt waren. Der Trainer Gordon Herbert hatte eine genaue Vorstellung davon, welche Spielertypen er braucht. Jeder wusste um seine Rolle. Das hat super funktioniert.

ZEIT WISSEN: Wie sieht schlechte Führung aus?

Pels: Triff Entscheidungen allein. Begründe deine Entscheidungen nicht. Lass dumme Sprüche im Team zu.

ZEIT WISSEN: Was halten Sie von Teambuilding im Job?

Pels: Gut und wichtig, wenn die Firma weiß, was dadurch erreicht werden soll. Manche Maßnahmen trainieren die Kommunikation, andere helfen eher dabei, eine Vision zu entwickeln. Wer den Zusammenhalt fördern möchte, kann zusammen Sport machen, aber so, dass sich die verschiedenen Leistungsniveaus gut darin wiederfinden und die Teilnehmenden sich wohlfühlen.

ZEIT WISSEN: Belohnungen und Prämien?

Pels: Studien zeigen: Menschen, die eine Tätigkeit an sich schon erfüllend finden, sind weniger intrinsisch motiviert, wenn sie plötzlich dafür eine Belohnung erhalten. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Aufgaben, die man einfach erledigen muss. Und da können zusätzliche externe Anreize die Motivation erhöhen.

ZEIT WISSEN: Wie werde ich ein guter Teamplayer?

Pels: Indem Sie überlegen: Wie kann ich meinem Team helfen? Wer soziale Kompetenz hat, spricht mal mit einer Person, von der man weiß, dass es ihr privat nicht so gut geht. Wer sich besondere organisatorische Fähigkeiten zuschreibt, kann zum Trainer oder zur Führungskraft gehen und sagen: Ich habe da eine Idee, können wir darüber sprechen? In gut funktionierenden Teams macht es Spaß, sich genau so einzubringen, wie es nötig ist, beim Spielen oder beim Arbeiten. Dann kann ein kleiner Rausch auftreten: der Gruppen-Flow.

Verlieren

Kein Sportler wird als Sieger geboren. Es geht los mit Niederlagen. Dann wird man besser, erreicht die Top Ten, steht vielleicht mal ganz oben und wird irgendwann wieder schlechter. In einem Alter, in dem Büromenschen erst durchstarten, geben Spitzensportler ihren Rückzug bekannt.

Carolin Schäfer, Jahrgang 1991, ist eine der besten Siebenkämpferinnen Deutschlands. Bei den Olympischen Spielen in Rio 2016 wurde sie Fünfte, jetzt trainiert sie für Olympia in Paris. "Ich habe weniger aus den Erfolgen gelernt als aus den Niederlagen", sagt sie in einem Telefonat in der Trainingspause. "Wenn man nach Niederlagen für sich resümiert, was man besser machen kann, ist das der Schlüssel, um wachsen zu können, sportlich wie persönlich." Ihre wichtigste Lehre aus bald 20 Jahren Siebenkampf: "Im Hier und Jetzt sein. Loslassen! Nicht daran denken, was vor einer Stunde war. Nicht an die nächste Disziplin denken, sondern nur an die, die jetzt dran ist." Abgerechnet wird zum Schluss.

Die Weitspringerin Malaika Mihambo, Olympia-Gold in Tokio 2021, hat viel Erfahrung mit Meditation und Coaching gesammelt. "Ich habe für mich gelernt, mein Selbstwertgefühl und meine Selbstidentifikation nicht von Erfolg und Misserfolg abhängig zu machen", sagt sie. "Natürlich bin ich auch mal traurig. Das ist in Ordnung. Vielleicht hängt mir eine Niederlage auch mal drei Tage nach. Aber dann versuche ich, so schnell wie möglich einen konstruktiven Umgang damit zu finden. Woran lag es, dass ich verloren habe? Was muss ich das nächste Mal besser machen? Dann wird aus einer Niederlage eine Lernerfahrung und damit etwas Positives."

Was Malaika Mihambo und Carolin Schäfer praktizieren, ist vorbildliche Fehlerkultur. Gute Sportlerinnen speichern eine Niederlage nicht als unangenehmes Gefühl ab, sagt die Sportpsychologin Johanna Belz, "sondern sie überlegen: Was nehmen wir mit? Dieser Gedanke würde uns in der Normalbevölkerung auch ganz guttun."

Fairness

Sport ist ein Spiegel der Gesellschaft, schreibt das Internationale Fair-Play-Komitee. Das ist nicht nur positiv gemeint. Sport kann auch heißen: keine Rücksicht auf Verluste; Gegner niedermachen; schummeln. Das Gegenprogramm heißt Fair Play. William Shakespeare hat den Begriff in seinen Dramen im Zusammenhang mit Politik und Intrigen verwendet. Später wurde Fair Play zum Synonym für den moralischen Kompass im Sport. Die Athletinnen und Athleten sollten ehrlich sein, respektvoll, freundschaftlich, gleichberechtigt, integer, tolerant, solidarisch, vorbildlich. Heute bleibt Fair Play das Ideal, das man durch Chartas, Regeln und Preise in Erinnerung hält. Die Nichtregierungsorganisation Panathlon International, die sich für Ethik im Sport stark macht, hat dafür die Fair-Play-Charta verabschiedet. Auszug:

Welche Rolle ich auch immer im Sport spiele, und sei es die eines Zuschauers, ich verpflichte mich ...

  • unabhängig vom Einsatz und von der Härte des Wettkampfes aus jeder Sportveranstaltung einen besonderen Moment, eine Art Fest zu machen;
  • mich den Regeln der ausgeübten Sportart anzupassen;
  • meine Gegner zu respektieren wie mich selbst;
  • die Entscheidungen der Wettkampfrichter zu akzeptieren, da ich weiß, dass sie wie ich das Recht haben, einen Irrtum zu begehen, aber ihr Möglichstes tun, um dies zu vermeiden;
  • Bosheiten und Aggressionen in meinen Handlungen, meinen Worten und meinen Schriften zu vermeiden;
  • keine Kunstgriffe oder betrügerische Handlungen zu verwenden, um zu siegen;
  • sowohl beim Sieg als auch bei der Niederlage Würde zu bewahren;
  • jedem Sportler mit meiner Gegenwart und meiner Erfahrung zu helfen;
  • jedem Sportler zu helfen, der sich eine Verletzung zugezogen hat;
  • ein wahrer Botschafter des Sports zu sein.

Wenn Sport ein Spiegel der Gesellschaft ist, könnte die Charta ja ein bisschen Fairness zurückspiegeln. Man müsste nur den Begriff Sport durch "soziale Medien" ersetzen oder durch "Politik", "Nachbarschaft", "Beziehung" oder "Arbeit".

Der Fair-Play-Sonderpreis des Deutschen Sportbunds geht in diesem Jahr an den Para-Sprinter Johannes Floors. Dessen Gegner saß vor dem 400-Meter-Finale der Leichtathletik-WM weinend auf seinem Startblock. Seine Prothese war gebrochen. Johannes Floors ging über drei Bahnen zu ihm und nahm ihn in den Arm.

Max Rauner hat vom Segeln etwas fürs Leben gelernt: das "Manöver des letzten Augenblicks". Wenn ein Crash kurz bevorsteht, beharre nicht auf deiner Vorfahrt. Taugt für jede Lebenslage.

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