Social Sabbatical: Vom Wirtschaftsjob in den Knast

Autor*innen
Elena Petznik
Ein Globus, bei dem die Erdkugel entfernt wurde und nur noch das Gestell übrig ist. Statt der Erdkugel schwebt dazwischen ein meditierender Geschäftsmann, der von Papieren, einem Laptop und einem kleinen Kaktus umgeben ist.

e-fellows.net-Alumnus Alexander Bachmann ist 34 Jahre alt als er beschließt, seinen langjährigen Job in der Wirtschaft aufzugeben, um ein halbes Jahr Bundesfreiwilligendienst in der freien Strafvollzugseinrichtung Seehaus e.V. zu absolvieren. Ein Interview über Gefängnis-Klischees und den Alltag zwischen "Böser Blick" und Marketing.

Alexander, du bist aus deinem sicheren Job in der Wirtschaft ausgestiegen. Hast du schon immer gewusst, dass du später im "Knast" landest?

Das war etwas komplizierter, schließlich bin ich mit Mitte 30 nicht im typischen Alter für ein Freiwilliges Soziales Jahr. Ich habe über einen Bekannten vom Seehaus erfahren und fand, dass die Arbeit dort sehr spannend klingt. Da das Umfeld in einer freien Strafvollzugseinrichtung wie dem Seehaus nicht für jeden geeignet ist, musste ich zunächst eine Woche lang auf Probe arbeiten, um festzustellen, ob ich es schaffe, in so einem Umfeld zurechtzukommen.

Die Arbeitsbelastung ist sehr hoch und es ist wirklich sehr anstrengend. Für mich war aber nach einer Woche klar, dass ich den Strafvollzug mit jungen Erwachsenen sehr spannend finde und dort die gesuchte Abwechslung gefunden habe.

Porträt Alexander Bachmann

Über Alexander Bachmann

Nach seinem Chemiestudium arbeitete der gebürtige Allgäuer 10 Jahre in der Chemiefaserindustrie und lebte mehrere Jahre in Asien. Zuletzt war er im Bereich strategisches Marketing und Sales tätig.

Sein halbjähriges Social Sabbatical absolviert Alexander in der Strafvollzugsanstalt Seehaus e.V., einem gemeinnützigen Verein, der im Bereich der Jugendhilfe, Kriminalprävention und Opferhilfe tätig ist. Als Alternative zum geschlossenen und offenen Strafvollzug betreibt der Seehaus e. V. Strafvollzug in freier Form mit Ausbildungsbetrieben in den Bereichen Schreinerei, Zimmerei, Metall sowie Garten- und Landschaftsbau und bietet straffällig gewordenen Jugendlichen so eine Alternative zum Knast und die Eintrittskarte in ein geregeltes Leben.

Wie weit im Voraus hast du dein Sabbatical bei deinem Arbeitgeber angekündigt?

Ich hatte schon länger den Wunsch, bei meinem alten Arbeitgeber zu kündigen. Ich fragte mich, ob ich nach der Kündigung mit Vollgas in den nächsten Job starten oder die Gelegenheit für eine kleine Auszeit nutzen sollte.

So kam mir die Idee für ein Social Sabbatical. Ich war lange Zeit im Wirtschaftsbereich tätig und suchte die Herausforderung, den Ausbruch aus der Komfortzone und fand die Idee sehr spannend, mich sozial zu engagieren. Das ist es dann letztendlich auch geworden.

Was hat dein Umfeld zu deinem Vorhaben gesagt?

Die meisten waren natürlich überrascht, weil es etwas sehr Ungewöhnliches ist. Gleichzeitig haben sie mir aber auch sehr positiv zugesprochen und bewundert, dass ich mich traue, in einer Strafvollzugseinrichtung zu arbeiten. Ich bin froh, dass ich die Flexibilität in meinem Leben habe, ein Social Sabbatical machen zu können.

Hat dich etwas überrascht, als du das Seehaus zum ersten Mal betreten hast?

Ja, dass es auf dem Grundstück absolut nichts gibt, das auf Strafvollzug hindeutet. Wer das Gelände betritt, fährt zunächst einen kleinen Weg zu einem See mit zwei modernen Wohngebäuden.

Grundstück Seehaus [Quelle: Seehaus e.V.]
Grundstück der Strafvollzugseinrichtung Seehaus e.V.

Es ist eigentlich eine große Familien-WG. Die Jungs sollen nicht eingesperrt hinter Gittern sein, sondern jeden Tag vor Augen geführt bekommen, wie schön das normale Leben sein kann. Alles wirkt sehr freundlich und einladend und so passiert es uns im Sommer häufig, dass Touristen fragen, ob sie bei uns ein Zimmer buchen können, weil sie denken, es handle sich um ein Hotel.

Du hast bereits zu Beginn gesagt, dass dein Job sehr anstrengend sein kann. Was sind deine Aufgaben im Seehaus?

Mein Tag startet meistens um 6:30 Uhr. Das ist bei uns die sogenannte "stille Zeit". Die Jungs – so nennen wir die jungen Strafgefangenen im Seehaus – müssen dann erst mal still sitzen und etwas lesen, um mit Ruhe in den Tag zu starten. Anschließend gibt es ein ganztägiges Programm, bei dem ich viel Zeit als Aufsichtsperson verbringe.

Ich bin bei den Mahlzeiten in der WG dabei, wenn sie ihre Hausaufgaben machen oder mache mit ihnen Sport. Ich überwache, wie die Jungs ihre Dienste erledigen, oder fahre sie zu Außenterminen in die Justizvollzugsanstalt (JVA).

Außerdem gehe ich dem Hausmeister einen Tag in der Woche zur Hand oder arbeite am Online-Marketing für das Seehaus. Durch das Leben in der WG sind die Tage sehr lang, meist ist erst nach 20 Uhr Dienstschluss. 

Hattest du keine Angst vor der Arbeit mit Straftätern?

Am Anfang schon. Da wusste ich noch nicht, was mich erwartet. Ich kannte das Image aus Film und Fernsehen von tätowierten, furchteinflößenden Inhaftierten. Das ist natürlich beängstigend. Mit der Zeit habe ich jedoch gemerkt, dass hinter der Fassade ganz liebe Jungs stecken, die meist aus schwierigen familiären Verhältnissen kommen, die falschen Freunde kennengelernt haben und so auf die schiefe Bahn geraten sind.

Gleichzeitig versuchen wir im Seehaus, die positiven Seiten der Inhaftierten herauszuarbeiten, sodass die Gefangenen die negative Knastkultur der JVA zurücklassen können. Das beste Beispiel ist der sogenannte "Böse Blick". Den lernen die Häftlinge, sobald sie in den Knast kommen, denn nur wer möglichst böse aussieht, verschafft sich Respekt. Bis sich die Jungs diesen bösen Blick wieder abgewöhnen und ein freundliches Lächeln im Gesicht haben, vergeht natürlich etwas Zeit. 

Wie sehr stimmen die Klischees von tätowierten Häftlingen und blutigen Knastkämpfen?

Also tätowiert sind die meisten Häftlinge tatsächlich. Das ist auch ein Teil der Knastkultur. Häufig stechen sich die Inhaftierten im Knast selbst Tattoos, um dazuzugehören. Die Stimmung ist sehr negativ und prägt die Jungs, weshalb sie im Idealfall nur so kurz wie möglich in der JVA bleiben sollten, bevor sie ins Seehaus kommen.

Natürlich gibt es auch Straftäter, die "nur" wegen Trunkenheit am Steuer verhaftet wurden. Selbst Angeln ohne Angelschein ist eine Straftat. Wer das zu oft macht, bekommt keine Verwarnung mehr, sondern Jugendhaft. Nicht alle Inhaftierten sind Schläger oder Räuber – da haben wir es mit ganz unterschiedlichen Straftaten und Persönlichkeiten zu tun.

Du hast vorher schon erwähnt, dass nicht jeder für die Arbeit im Strafvollzug geeignet ist. Hilft dir denn dein Studium oder deine bisherige Arbeitserfahrung bei deiner jetzigen Tätigkeit im Knast?

Ich denke, mein Alter und meine Lebenserfahrung helfen mir. Das Seehaus konnte mir andere Aufgaben übertragen als 18-jährigen Schulabgängern, die ein FSJ absolvieren.

So konnte ich meine bisherigen beruflichen Erfahrungen einbringen und Marketing-Tätigkeiten übernehmen sowie eine Crowdfunding-Kampagne aufsetzen, die wir demnächst starten. Und auch die Inhaftierten bringen mir aufgrund meiner Lebenserfahrung mehr Respekt entgegen als den ganz jungen Kollegen.  

Wie hat sich deine Sicht auf den Strafvollzug verändert, seit du im Seehaus arbeitest? 

Der Strafvollzug gehört zu den wenigen Dingen, in die der normale Bürger so gut wie keinen Einblick bekommt. Was ich gesehen habe, war wirklich erschreckend. Die klassische JVA macht meiner Meinung nach vieles schlimmer statt besser und steht deswegen auch in der Kritik.

Es gibt dort massenhaft Drogen, Gewalt, Erpressung und eine insgesamt sehr negative Knastkultur. Gefängnisse sind von Hierarchien geprägt. Die Insassen müssen sich beweisen – und das geht im Knast nur, indem sie gemein zu anderen sind. So sind die meisten Inhaftierten bei ihrer Entlassung alles andere als resozialisiert.

Denkst du, das im Seehaus vertretene Strafvollzugskonzept kann den Inhaftierten dabei helfen, ein besseres Leben zu führen?

Die Insassen der JVA müssen nichts leisten. Wenn sie wollen, können sie sich den ganzen Tag in der Zelle einschließen lassen und fernsehen. Sie verbringen teilweise zwei Jahre Jugendhaft, ohne an sich zu arbeiten.

Im Seehaus versuchen wir hingegen, die jungen Männer zu einem selbstständigen Leben zu erziehen. Sie sollen lernen, den Haushalt zu schmeißen, einen achtstündigen Arbeitstag zu bewältigen, ihre Schulden zu managen und sich von Drogen und Alkohol fernzuhalten. Sie lernen sich selbst kennen, ihr Umfeld, ihre Herkunft und erfahren, wie sie sich entwickelt haben. Sie erkennen die Ursache für verschiedene Verhaltensweisen und entdecken, wie sie mit Herausforderungen umgehen.

Sich Ziele zu stecken und diese zu erreichen, spielt dabei eine große Rolle. Es ist wichtig, dass die Jungs begreifen, dass sie trotz ihrer Vergangenheit wertvoll sind und angenommen werden – auch wenn ihre Eltern ihnen regelmäßig eintrichtern, sie könnten nichts im Leben erreichen.

Wir versuchen ihnen zu zeigen, dass sie Stärken haben und erklären ihnen, dass etwas aus ihnen werden kann. Zum Beispiel lassen sich in jemandem, der in der Vergangenheit eine Straßengang angeführt hat, Führungsqualitäten erkennen, die er in seiner Zukunft nutzen kann.

Gibt es auch negative Seiten des freien Strafvollzugs?

Ich finde es sehr frustrierend, dass wir immer die gleichen Punkte mit den Jungs durchgehen müssen, da sich ihre Verhaltensmuster regelmäßig wiederholen. Da frage ich mich, ob es nach der Pubertät überhaupt möglich ist, den Charakter so stark zu verändern. Vielleicht sind die Muster bereits so eingefahren, dass sich der Mehraufwand, den das Seehaus betreibt, nicht lohnt und wir die Jungs nicht mehr ändern können.

Allerdings muss man den Erfolg langfristig betrachten. Da gibt es positive und negative Beispiele: Jungs, die aus dem Seehaus rauskommen und drei Wochen später wieder im normalen Knast einsitzen. Und Absolventen, die erzählen, dass ihnen die Zeit im Seehaus geholfen hat, wieder auf den richtigen Weg zu kommen.

Mit wem würdest du denn lieber zu Mittag essen – mit einem ehemaligen Kollegen aus deinem Wirtschaftsjob oder mit einem der Häftlinge?

Ich würde fast sagen mit meinen ehemaligen Kollegen, weil dort mein Geist stärker angeregt wird. Mit den jungen Häftlingen ist es zwar auch sehr witzig und es wird viel Spaß gemacht. Aber gleichzeitig ziehen die Jungs unglaublich viel Energie und benötigen viel Aufmerksamkeit. Wenn ich mit meinen ehemaligen Kollegen zu Mittag esse, würde ich meine Batterien aufladen, mit den Jungs eher entladen.

Hat dich das Sabbatical verändert?

Auf jeden Fall. Ich habe für diese Zeit sehr viele Freiheiten aufgegeben und neu schätzen gelernt. Außerdem bin ich sehr dankbar, dass ich in einem behüteten Umfeld aufwachsen durfte. Auch meine Sicht auf Bedürfnisse hat sich verändert. Ich achte mehr auf mich und meine Umwelt. In der Wirtschaft spielt das Zwischenmenschliche eine sehr untergeordnete Rolle. Die eigenen Bedürfnisse werden von den Vorgesetzten eher ignoriert.

Das ist in der sozialen Arbeit anders. Ich fand es wirklich interessant, wie die Mitarbeiter im Seehaus immer darauf achten, wer welches Bedürfnis hat und wie man diesem am besten gerecht werden kann. Außerdem ist es spannend, wie Sozialarbeiter in Konfliktsituationen agieren und die richtigen Worte finden, um die Situation zu entschärfen.

Würdest du dich wieder für den Knast entscheiden?

Definitiv! Zwar war die Arbeit im Seehaus sehr zeitintensiv und anspruchsvoll, aber genau diese Herausforderung habe ich gesucht. Der Job hat mich manchmal an Belastungsgrenzen gebracht, aber ich würde es jederzeit wieder machen und empfinde es als sehr spannende und lehrreiche Erfahrung.

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