Geschwister: Die längste Beziehung und wie sie uns prägt

Autor*innen
Nora Voit
Mehrere Hände sind mit Fäden verbunden

Paare trennen sich, Eltern sterben, Freundschaften verblühen. Nur Geschwister bleiben – und beeinflussen uns ein Leben lang. Wie, das verändert sich auch noch im Alter.

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Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 16/2024.

Wenn Paare tief in einer Krise stecken, probieren sie oft alles Mögliche aus, um wieder zueinanderzufinden: Sie diskutieren stundenlang, suchen womöglich nicht nur unter Freunden, sondern auch professionellen Rat. Manche Liebesbeziehung lässt sich durch viel Geduld, Zeit und Mitgefühl noch retten. Wenn einen hingegen die große Schwester oder der kleine Bruder verletzt hat, machen manche einfach jahrelang um jede Familienfeier einen Bogen. Das Verhältnis zu Schwester oder Bruder scheint viel weniger Engagement wert zu sein als das zum Partner oder der Partnerin. Dabei ist ausgerechnet die Beziehung zu den Geschwistern diejenige, die unter allen Beziehungen durchschnittlich am längsten währt. Warum setzen wir uns nicht viel intensiver damit auseinander?

Mehr als 80 Prozent der Menschen weltweit wachsen unter Geschwistern auf. Selbst in Deutschland, wo es oft heißt, es gebe so viele Einzelkinder, haben rund drei Viertel aller Kinder mindestens einen Bruder oder eine Schwester. Trotzdem haben sich selbst Wissenschaftler im Vergleich zu anderen familiären Beziehungsgeflechten recht wenig mit Geschwisterbeziehungen befasst. Erst spät, in den Achtzigerjahren, begannen sich Psychologinnen, Bindungsforscher und Erziehungswissenschaftler mit dieser speziellen Bindung zu beschäftigen, bis heute gibt es in Deutschland keinen eigenen Lehrstuhl für Geschwisterforschung. Vielleicht auch deshalb stapeln sich seit Jahrzehnten Mythen von rivalisierenden Brüdern und Schwestern und zur Geburtenrangfolge, wo dann von Entthronungstrauma, Sandwichkindern und Nesthäkchen die Rede ist. Aber gibt es diese Rollen überhaupt? Wie geht man mit den Klischees und Erwartungen um? Und wie schafft man es schließlich, ein Leben lang als Bruder oder Schwester füreinander da zu sein – auch wenn es mal knirscht?

Jedes Kind will ein Alleinstellungsmerkmal entwickeln.
Inés Brock-Harder, Erziehungswissenschaftlerin

Inés Brock-Harder ist Erziehungswissenschaftlerin und Vorsitzende des Bundesverbandes für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Sie erforscht Beziehungen unter Geschwistern und kennt aus ihrer Praxiserfahrung als Psychotherapeutin die Pole, zwischen denen sich Geschwister oft bewegen: Rivalität trifft auf Liebe, Neid auf gegenseitige Unterstützung. Aus evolutionärer Perspektive sind Geschwister Rivalen. Sie kämpfen um Nahrung, Sicherheit, Liebe und Aufmerksamkeit der Eltern. Geht es anfangs noch um die Brust der Mutter, ist es später vielleicht die Größe des Baggers, noch später die Schulnote oder Reaktionen auf einen Instagram-Post. "Rivalität unter Geschwistern ist etwas Natürliches", sagt Brock-Harder. Auch wenn mehrere Faktoren eine Rolle spielen, geraten Geschwisterkinder häufig in Konflikt – je nach Alter bis zu achtmal pro Stunde. Grund zur Sorge braucht das für Eltern nicht zu sein – erst mal. Forschende der Universität Cambridge fanden sogar heraus: Selbst wenn die Beziehung von Rivalität geprägt ist, wirken sich Geschwister positiv auf die gegenseitige Entwicklung aus, denn Streit formt auch die Fähigkeit, schwierige Situationen bewältigen zu können.

Eltern spielen allerdings selbst eine entscheidende Rolle für die Geschwisterbeziehung. "Die Qualität hängt immer vom Management der Eltern ab", sagt Brock-Harder. Diese elterliche Herausforderung beginnt schon, wenn sich das erste Geschwisterchen ankündigt. Laut Brock-Harder ist es wichtig, das ältere Kind sorgfältig auf die Geburt eines Bruders oder einer Schwester vorzubereiten, ihm Sorgen zu nehmen, aber gleichzeitig ehrlich zu sein: Das Neugeborene wird viel Aufmerksamkeit brauchen. Wenn es gelingt, den Zuwachs behutsam und liebevoll anzukündigen, bleibt auch das Entthronungstrauma aus. Damit ist die in der Psychoanalyse viel beschriebene Erschütterung der Erstgeborenen gemeint, die mit der Geburt des Geschwisters plötzlich nicht mehr an erster Stelle stehen. "Dabei ist das eine ganz normale Lebensherausforderung, die man bewältigen kann", sagt Brock-Harder.

Hat eine Familie mehrere Kinder, geht es immer darum, die Grundbedürfnisse jedes einzelnen Kindes zu erfüllen. Gleichzeitig ist es wesentlich, die Kinder nicht miteinander zu vergleichen. Denn wenn ein Geschwister deutlich bevorzugt oder benachteiligt wird, intensiviert sich der Kampf um Ressourcen. Studien haben gezeigt, dass die Beziehung der Geschwister untereinander durch eine Bevorzugung der Eltern leidet. Statt zu vergleichen, wer sich früher die Schnürsenkel binden kann oder sportlicher ist, sollten Eltern lieber die Differenz ihrer Kinder stärken, rät Brock-Harder. "Jedes Kind will ein Alleinstellungsmerkmal entwickeln."

Wenn das gut gelingt, ist es ein Schatz, denn gute Geschwisterbeziehungen können unser Leben bereichern. Brüder und Schwestern sind nämlich nicht nur Risiko, sondern auch Ressource. Das enge Miteinander schon in der frühen Kindheit sorgt dafür, dass Geschwisterkinder einen sprachlichen Entwicklungsschub machen. Im Streit lernen sie Konfliktfähigkeit und Emotionen auszubalancieren, aber auch die eigenen Bedürfnisse und Interessen durchzusetzen.

Das enge Miteinander macht uns empathisch. Spielen, Kuscheln, Raufen schaffe eine Intimität, die zu einer sogenannten Mentalisierungsfähigkeit führt, sagt die Psychologin Brock-Harder. Sie fand heraus, dass Geschwister sich leichter im Kindergarten eingewöhnen (PDF) können und später in der Schule oft besser von den Eltern lösen. Später können sie einander im Liebeskummer trösten und schwierige Entscheidungen begleiten. Sie können einem den Rücken stärken, wenn man mit den Eltern im Clinch liegt.

Der Schweizer Psychologe und Familienforscher Jürg Frick beschäftigt sich als einer der wenigen seit mehr als 25 Jahren mit Geschwisterbeziehungen auch unter Erwachsenen. Frick sagt: Jede Geschwisterbeziehung verläuft in Phasen. Nach einer engen Verbundenheit und gleichzeitiger Rivalität in der Kindheit beginnt in der Pubertät die Ablösung. "Man lebt mehr in eigenen Welten, driftet auseinander", sagt er. Bruder oder Schwester etablieren eigene Freundeskreise, führen vielleicht die ersten Liebesbeziehungen. Vielleicht zieht man später zum Studium oder zur Ausbildung in eine andere Stadt und trennt sich auch räumlich. In manchen Fällen führt schon diese Distanz zu einem Knacks oder sogar einem Kontaktabbruch. Je nachdem, wie stabil das Verhältnis vorher war. Und so trägt im Laufe des Lebens neben den Eltern ein ganzer Stapel weiterer Faktoren zur Qualität der Geschwisterbeziehung bei: Erfolg im Beruf, Einkommen, Krankheiten oder Beziehungen. "Auch Partner können Geschwisterbeziehungen stören", sagt Frick, "oder auch kitten." Hat die Partnerin beispielsweise ein enges Verhältnis zur Schwester des Partners, kann das die beiden im günstigen Fall wieder zueinander bringen. Umgekehrt kann sich eine Beziehung auch entfremden, wenn Familienmitglieder vom Partner oder der Partnerin entwertet werden.

Neben den Eltern trägt ein ganzer Stapel weiterer Faktoren zur Qualität der Geschwisterbeziehung bei: Erfolg im Beruf, Einkommen, Krankheiten oder Beziehungen.
Jürg Frick, Familienforscher

Wenn Geschwister sich zu Tanten und Onkeln machen, rücken sie oft wieder näher zusammen, kümmern sich gegenseitig um die Kinder, fahren vielleicht sogar wie früher gemeinsam in den Urlaub. Genau wie in der letzten gemeinsamen Phase. "Wenn Eltern alt sind und pflegebedürftig werden, werden Geschwister durch die gemeinsame Verantwortung wieder gezwungen, sich miteinander auseinanderzusetzen", sagt Frick. Manchmal, weiß der Experte aus Erfahrung, schweißt das zusammen. Mit dem Tod der Eltern sind Geschwister nicht nur die letzten Vertreter ihrer Ursprungsfamilie, sondern auch die, die gemeinsame Erinnerungen an das eigene Großwerden wachhalten. Manchmal brechen in dieser letzten Phase aber auch neue alte Konflikte auf. Auslöser kann ein Streit über ein geeignetes Pflegeheim oder ein als ungerecht empfundenes Erbe sein. "Das Materielle ist nur das Äußere", sagt Frick. Letztlich ginge es fast immer darum, welchen Platz und welche Rolle man in der Familie hatte. Fühle ich mich geliebt und wertgeschätzt? Wer bin ich im Vergleich zu meinen Geschwistern?

Einmal Nesthäkchen, immer Nesthäkchen?

Auf die Frage, wer man ist im Vergleich zu seinen Geschwistern, schien lange Zeit die Geburtenrangfolge eine Antwort zu haben. Noch heute haben viele feste Vorstellungen im Kopf über vermeintliche Persönlichkeitsprofile von Erst-, Zweit- und Drittgeborenen. Der Erstgeborene taugt durch seine Führungsqualitäten zum idealen Chef? Das Sandwichkind leidet unter fehlender Aufmerksamkeit? Einmal Nesthäkchen, immer Nesthäkchen? Nicht wirklich. Populärwissenschaftliche Ansätze, die davon ausgehen, dass die Geburtenreihenfolge für die Persönlichkeitsentwicklung verantwortlich ist, konnten bis heute nicht wissenschaftlich erwiesen werden. Dafür spielen zu viele Faktoren mit rein – neben der elterlichen (Un-)Gleichbehandlung eben auch das Geschlecht, das soziale Umfeld, die finanzielle Stabilität. "Ob die Position der Geschwisterrangfolge negativ oder positiv ist, hängt auch davon ab, wie Betroffene sie erleben", sagt der Schweizer Psychologe Frick. Beispiel Sandwichkind: Das eine Kind leidet unter der Position des "Dazwischen", das andere findet es wunderbar. "Man kann es auch so sehen", sagt Frick, "die Mitte vom Sandwich ist eigentlich immer am besten."

Größer hingegen ist der Einfluss von Rollen, die Eltern ihren Kindern – oft unbewusst – schon in der frühen Kindheit zuschreiben. Die Kleinste wird zum Sensibelchen erkoren, der mittlere Bruder zum Rebellen? Für Kinder ist es schwierig, sich aus solchen Rollen zu befreien. Häufig bleiben sie sogar ein Leben lang an ihnen kleben – was früher oder später zu Konflikten führen kann. "Viele Erwachsene leben immer noch in ihrer Kindheitsrolle und merken das gar nicht", sagt Frick. So bleibt die kleine Schwester in den Augen der älteren Geschwister vielleicht immer die Bevorteilte. Und der Streit ums Erbe ist vorprogrammiert.

Die Sache mit dem Altersabstand

Ähnlich mit Vorurteilen behaftet und anhand von Daten nicht eindeutig für bestimmte Verhaltensweisen oder Rollen verantwortlich zu machen, ist der Altersabstand zwischen Geschwistern. "Ich werde immer wieder gefragt, welcher Abstand ideal wäre bei der Produktion der Kinder", sagt Frick. Er lacht. Viele gehen davon aus, dass Kinder mit einem geringen Altersabstand eine besonders enge Bindung zueinander entwickeln. Auch eine finnische Studie mit rund 4.000 Geschwistern zwischen 19 und 67 Jahren zeigt, dass Brüder und Schwestern als Erwachsene mehr Kontakt miteinander haben, wenn der Altersunterschied klein ist. Der Psychologe Frick will das jedoch relativiert wissen.

Wenn Geschwister ähnlich alt sind und zudem noch das gleiche Geschlecht haben, ist die Wahrscheinlichkeit zwar höher, dass sie in einer gemeinsamen Welt leben – aber auch, dass sie mehr streiten. In der Schule ist ein geringer Abstand zum Beispiel ein Risikofaktor und kann zu Konkurrenz führen. Diese Probleme haben Geschwister, die mehrere Jahre voneinander trennten, seltener. "Ein 15-Jähriger streitet auch nicht mit einem Fünfjährigen über das Lego", sagt Frick. Dafür ist bei diesen Geschwistern aber auch die Bindung manchmal nicht ganz so tief.

Paartherapie – aber für zerstrittene Geschwister?

Wer dauerhaft unter einer schlechten Beziehung zu Bruder oder Schwester leidet, kann auch im hohen Alter noch daran arbeiten. "Es ist nie zu spät, eine gute Geschwisterbeziehung zu haben", sagt die Erziehungswissenschaftlerin Inés Brock-Harder. Sie bietet Geschwisterberatung an, die ähnlich wie eine Paartherapie abläuft, sich aber eben an Geschwister in der Krise richtet. Zu ihr kommen erwachsene Geschwister mit Mitte 20 oder über 60 – übrigens bisher ausschließlich Schwestern. "Gerade am Ende des Lebens wollen viele loslassen und positiv zurückblicken", sagt die Psychologin. Deshalb lohne es sich, auch spät noch einmal an zerrütteten Beziehungen zu arbeiten.

Auch Jürg Frick berät Geschwister, zwischen denen es knirscht. "Von einer guten Geschwisterbeziehung kann man viel gewinnen", sagt er. Er erinnert sich an einen Fall aus seiner Praxis, in der zwei jahrelang verfeindete Schwestern zueinandergefunden haben, nachdem die eine schwer nierenkrank geworden war und die andere ihr völlig unerwartet eine Niere gespendet hatte. Für den Psychologen zeigt das nicht nur, wie tief das Geschwisterband ist, sondern auch, wie wichtig es ist, Entwicklung zuzulassen. Frick rät, sich offen und neugierig gegenüberzutreten und zu fragen: Was passiert gerade im Leben des anderen, von dem ich nichts weiß? Wie möchte ich von meiner Schwester oder meinem Bruder gesehen werden? Auch sich selbst sollte man reflektieren, um aus möglichen zugeschriebenen Rollen und Begrenzung der Eltern ausbrechen zu können. "Es ist wichtig, dass man dem anderen gegenüber auch im Erwachsenenalter noch offen ist", sagt Frick. "Sich als gleichwertige Menschen auf Augenhöhe zu betrachten – und den kleinen Bruder nicht ein Leben lang als kleinen Bruder wahrzunehmen." Am besten, sagt der Mann, der es wissen muss, probiere man das mal auf der nächsten Familienfeier aus.

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