Selbstoptimierung: Schräg nach oben

Autor*innen
Katja Scherer
Ein Pfeil zeigt einen nach oben gehenden Trend. Eine Person stützt den Pfeil von unten.

Der gesellschaftliche Druck, sich stetig zu verbessern, ist allgegenwärtig – und kann unglücklich machen. Wie gelingt es, Erfolg nach seinen eigenen Maßstäben zu definieren?

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Für Felix Plötz ging es stets nach oben. Und das in großen Schritten: Seinen ersten Job ergatterte er direkt nach dem Studium bei Energietechnikhersteller ABB. Nur zwei Jahre später stieg er dort zum Regionalvertriebsleiter auf. Schon parallel dazu gründete er seine erste Firma: Caruising, einen Anbieter von Trainings fürs Spritsparen. Das Geschäft lief gut. Aber Plötz hielt sich nicht lange damit auf. Er gründete noch ein weiteres Unternehmen, den Verlag Plötz & Betzholz, den er wiederum nur zehn Monate später an den Ullstein Verlag verkaufte. Parallel schrieb er mehrere Bücher übers Gründen im Nebenberuf und erfüllende Arbeit. Und er startete als Keynote-Speaker durch. In seiner erfolgreichsten Zeit stand er fast täglich auf Bühnen, sprach vor Spitzenmanagern über Motivation und Unternehmertum.

Büffeln statt Bühne

Und dann, Ende 2021, ging es zurück auf null. Plötz machte eine Ausbildung zum Physiotherapeuten. Krankenkassenpatienten statt Konzernchefs, eine schlichte Praxis mit Raufasertapete statt teurer Hotels, 3.000 Euro im Monat statt 8.000 Euro pro Vortrag. 

In der Coronapandemie, die für ihn beruflich eine Zwangspause bedeutete, war er ins Nachdenken geraten. Ihm fehlte die Abwechslung. Und auch der Sinn. Als Physiotherapeut könnte er Menschen helfen, mit seinem Job wirklich einen Unterschied machen. So weit seine Idee. Doch bei fast allen, denen er davon erzählte, stieß Plötz auf Unverständnis. "Die meisten konnten einfach nicht fassen, warum ich meine Bekanntheit, meinen Erfolg und mein hohes Einkommen für eine ganz normale Ausbildung aufgebe." Das liegt wohl auch daran, dass Plötz’ Entscheidung mit einem gängigen Credo bricht: dass es immer weiter nach oben gehen muss. Unzählige Ratgeber und Coachings suggerieren uns, dass wir immer besser, klüger, erfolgreicher werden müssen – und nur dann glücklich sein können. Dass viele das verinnerlichen, belegt unter anderem eine Studie von zwei britischen Psychologen aus dem Jahr 2022. Die Wissenschaftler werteten in einer Metastudie knapp 150 Studien aus, die den Perfektionismus von amerikanischen, britischen und kanadischen Studenten untersucht hatten. Das Ergebnis: Die Ansprüche der Studenten an sich und andere hatten seit Ende der 1980er-Jahre stetig zugenommen. Gründe dafür seien sowohl familiäre als auch allgemeine gesellschaftliche Erwartungen, schreiben die Psychologen. So beginne der Druck, exzellent zu sein, schon in Schule und Studium. Im Beruf setze sich das fort. 

Der Anspruch, immer besser werden zu wollen, sei grundsätzlich gar nicht schlecht, sagt Eva Asselmann, Psychologieprofessorin an der Health and Medical University in Potsdam. Sie erforscht, wo die Grenze liegt zwischen gesundem Ehrgeiz und ungesunder Selbstoptimierung. "Erfolgreich zu sein und sich beruflich und persönlich weiterzuentwickeln kann durchaus erfüllend sein", betont sie. Problematisch sei aber, dass immer mehr Menschen das Gefühl haben, ständig nur noch ihren und den gesellschaftlichen Erwartungen hinterherzuhinken. Dadurch würden sie unzufrieden und freuten sich nicht mehr über Erfolge.

Stress beginnt beim Aufstehen

Verstärkt wird dieser Druck noch dadurch, dass in westlichen Gesellschaften jeder für seinen Erfolg als selbst verantwortlich gilt. Wer nicht erfolgreich ist, hat sich also nicht ausreichend angestrengt, so ein verbreiteter Gedanke. Dass das nicht stimmt, weil in Wahrheit eben jeder individuell unterschiedliche psychische, soziale und genetische Voraussetzungen mitbringt, werde oft missachtet, sagt Asselmann. Und so beginnt der Stress für manche schon unmittelbar nach dem Aufstehen, mit der Frage nach der richtigen Morgenroutine. Bei der Arbeit strebt man dann nach maximaler Produktivität, beim Essen nach bester Gesundheit. Und selbst am Abend, wenn man eigentlich abschalten möchte, erinnert einen die Yoga-App per Push-Mitteilung: Man müsste doch dringend mal wieder eine Meditation genießen. 

Dass die meisten Menschen das als stressig empfinden und schwerlich ignorieren können, hat tief liegende Gründe, sagt die Psychologin Asselmann. Evolutionär bedingt sei es für den Mensch überlebenswichtig, einer sozialen Gruppe anzugehören. "Und wir vergleichen uns mit anderen, um herauszufinden, ob wir in unserer sozialen Gruppe mithalten können." Habe man dagegen das Gefühl, abgehängt zu werden, löse das Angst aus. Und das passiere mittlerweile oft, da wir uns eben nicht mehr nur mit unserem direkten Umfeld vergleichen, sondern durch soziale Medien tagtäglich mit Milliarden Menschen weltweit. "Vor allem für ehrgeizige Menschen, die immer die Besten sein wollen, kann das zum Problem werden." 

Wie stark Menschen unter dem vorherrschenden Leistungsprinzip leiden, sei allerdings unterschiedlich. "Manche Menschen, die selbstbewusst und ehrgeizig sind, gehen in einem sehr leistungsorientierten Umfeld voll auf und nehmen den ständigen Optimierungsdruck als weniger stressig wahr." Andere dagegen leiden unter den ständigen Vergleichen. "Dann kann es hilfreich sein, das Streben nach immer besseren Leistungen aufzugeben und zu lernen, dass es völlig in Ordnung ist, mittelmäßig zu sein." 

Felix Plötz zum Beispiel zählt zu den Menschen, die offenbar recht immun gegen den gesellschaftlichen Druck sind. Dass viele seine Entscheidung für die Ausbildung zum Physiotherapeuten nicht verstanden hätten, sei ihm egal gewesen, sagt er. Auch auf den Glamour als Keynote-Speaker zu verzichten sei ihm nicht schwergefallen. Dabei ist er durchaus ehrgeizig – und hatte eine Menge in seine Karriere investiert: Er hat Stimm- und Schauspieltraining genommen, seine Vorträge immer wieder auf Video analysiert, um noch besser zu werden. Und dann auf einmal wieder ganz von vorn anfangen? Plötz zuckt mit den Schultern: Ihm sei es wichtig, Erfolg zu haben bei dem, was er tue, sagt er. "Ich möchte das, was ich mache, grundsätzlich sehr gut machen." Offenbar gelingt dem 40-Jährigen, woran so viele andere verzweifeln: Erfolg nach seinen eigenen Maßstäben zu definieren.

Allein im Wald

Er sei, so erzählt er, nie viel auf Social Media unterwegs gewesen. Selten habe er sich mit anderen Rednern oder Autoren verglichen, sondern immer versucht, den Fokus auf sich selbst zu legen. Dafür ging er manchmal stundenlang allein im Wald spazieren und überlegte: Wo stehe ich gerade? Welchen Schritt möchte ich als Nächstes beruflich erreichen? Und was muss ich dafür tun? "Mein Maßstab für Erfolg ist immer die Frage: Habe ich im Rahmen meiner Möglichkeiten das Beste gegeben?", sagt er. Auf die Höhe seiner Honorare oder die Verkaufszahlen seiner Bücher habe er deshalb wenig gegeben. 

Vielen Menschen fällt das allerdings sehr schwer, beobachtet Isabella Helmreich, Psychotherapeutin und wissenschaftliche Leiterin für den Bereich Wissenstransfer am Mainzer Leibniz-Institut für Resilienzforschung. Sie sagt sogar, dass viele Menschen gar nicht genau wissen, was ihnen wichtig ist im Leben. "Und das macht einen dann natürlich anfällig für den gesellschaftlichen Optimierungsdruck und überzogene Erwartungen an sich selbst." Sie rät, sich grundsätzliche Fragen zu stellen. "Zum Beispiel: Was ist mir wichtig im Leben? Was sind meine Ziele, die ich erreichen will? Und wie viel bin ich auch bereit, dafür aufzugeben?" 

Auch, so betont Helmreich, weil die wenigsten Leute all die Opfer sehen, die andere für ihre Erfolge bringen müssen. Ein Top-Manager zum Beispiel genieße Geld und Prestige. Klar, das sehe jeder – oder könne es sich leicht vorstellen. Wie viele Überstunden er allerdings dafür schiebt und wie wenig Zeit ihm deshalb für ein erfüllendes Hobby bleibt, das sehe kaum jemand. Ein Expat mit Auslandserfahrung verzichtet zumindest zeitweise auf Freunde und Familie zu Hause. Und wer jeden Morgen vor der Arbeit eine Stunde Sport macht, hat vielleicht ein Sixpack, dafür aber keine Zeit, in Ruhe Kaffee zu trinken. "Und die eigentliche Frage ist doch: Was macht mich glücklicher?", sagt Helmreich. Natürlich könne man immer einem gesellschaftlich erwünschten Ziel hinterherlaufen. "Aber wenn es mich glücklicher macht, morgens gemütlich Kaffee zu trinken, sollte doch das mein Maßstab sein."

Auf den Titel verzichtet

Dass man durchaus lernen kann, aufs eigene Bauchgefühl zu hören und gesellschaftliche Erwartungen auszublenden, zeigt der Lebensweg von Agnes Kesper. Die 37-Jährige arbeitet bei der Personalberatung Hays – früher als Teamleiterin mit sechs Mitarbeitern. 2020 boten ihr ihre Chefs eine Stelle als Projektleiterin an – ohne Personalverantwortung. Kesper fand die neue Stelle sehr spannend, merkte aber, dass es ihr schwerfiel, den Führungsposten abzugeben. Sie fragte sich: Warum eigentlich? Weil es ihr Spaß machte, andere zu führen? Oder weil es zur Karriere eben dazugehört? "Ich wurde unsicher, was wirklich meine eigenen Werte sind und was nur gesellschaftliche Erwartungen, die ich sehr stark verinnerlicht habe", sagt sie. 

Zu dieser Zeit sei sie anfälliger gewesen für den allgemeinen Druck der Selbstoptimierung, erzählt Kesper. In sozialen Netzwerken beobachtete sie all die erfolgreichen Businessfrauen. Sie sprach mit Kollegen darüber, ob es sich lohnte, die 5AM-Club-Methode zu testen – und morgens früh um fünf Uhr aufzustehen, um Sport zu machen und die eigene Arbeit zu reflektieren. Wenn sie sich am Wochenende mit Freundinnen im Café traf, fragten sie sich gegenseitig halb im Scherz, halb im Ernst, wie es denn momentan so laufe mit der Selbstoptimierung.

Abschied vom Newsfeed

Das Stellenangebot habe sehr viel für sie verändert. Denn erst dadurch begann Kesper, sich bewusst und intensiv mit den Fragen zu beschäftigen, die die Psychotherapeutin Helmreich empfiehlt: Was will ich eigentlich? Was sind meine Ziele? Kesper sprach mit ihren Vorgesetzten und Kollegen über die Frage, was beruflicher Erfolg ist. Sie entfernte alles, was den Druck erhöhte, aus ihrem Social-Media-Feed. Und sie begann, ihr eigenes Bild von einer erfolgreichen Karriere zu bauen, entschied sich schließlich für die Stelle als Projektleiterin ohne Führungsverantwortung. "Früher dachte ich, dass es einen optimalen Karriereweg gibt", sagt sie. "Heute weiß ich, dass es viele Wege gibt, Karriere zu machen, die alle nebeneinanderstehen, und dass die relevante Frage vielmehr lautet: Welcher passt zu mir?" 

Der ehrliche Austausch mit vertrauten Menschen, über Ziele, aber auch Ängste, das sei einer der besten Wege, um die eigenen Werte herauszufiltern, sagt die Psychotherapeutin Isabelle Helmreich. Und sie empfiehlt, regelmäßig aufzuschreiben, was einen nervt und was einen glücklich macht. Das gehe im stressigen Alltag schnell unter. "Eine Art persönliches Glückstagebuch kann daher helfen." Wer mit hohen Ansprüchen nicht gut klarkomme, müsse lernen, Mitgefühl mit sich selbst zu entwickeln und zu akzeptieren, wenn andere schneller und besser bei etwas sind. Die Psychotherapeutin rät, sich in solchen Momenten durch die Brille eines Freundes zu betrachten und sich zu fragen: Was würde ich dann sagen? 

Felix Plötz hat seine dreijährige Ausbildung zum Physiotherapeuten inzwischen fast abgeschlossen. Bereut hat er den Neustart noch nie. Kürzlich, erzählt er, habe er einen Patienten behandelt, einen hochrangigen Manager, dem ein Muskel abgerissen war und dem er helfen will, irgendwann wieder joggen zu können. "Für mich persönlich ist das ein größerer Erfolg als alles, was ich zuvor erreicht habe."

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