Begabtenförderung: Wie gerecht sind Stipendien?

Autor*innen
Caroline Becker
Um einem Gelschein sind viele Hände

Begabtenförderung helfe vor allem denen, die ohnehin privilegiert sind, heißt es immer wieder. Was ist da dran? Zwei Sozialwissenschaftler diskutieren und drei Geförderte schildern Eindrücke.

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In Deutschland gibt es zurzeit 13 Begabtenförderungswerke, die, größtenteils finanziert durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), Stipendien an Studierende und Promovierende vergeben. Einige stehen Parteien nahe, andere Religionsgemeinschaften oder Organisationen wie dem Deutschen Gewerkschaftsbund. Die Studienstiftung des deutschen Volkes ist mit rund 14.000 Stipendiaten das größte der 13 und weder parteinah noch religiös. Im Herbst, also zu Beginn des Wintersemesters, läuft das mehrstufige Auswahlverfahren. Journalisten und Fachleute kritisierten in den vergangenen Jahrzehnten diesen Prozess immer wieder, da durch die Bewerbungsverfahren der Begabtenförderungswerke hauptsächlich ohnehin schon privilegierte Studenten ausgewählt würden. Die meisten Werke passen ihr Auswahlverfahren daher immer wieder leicht an. So auch die Studienstiftung. Vor 2010 bat sie beispielsweise Schulen darum, die besten und begabtesten Schüler vorzuschlagen. Inzwischen appelliert sie, unterschiedliche Bildungshintergründe, außerschulische Aktivitäten und gesellschaftliches Engagement zu berücksichtigen. Darüber hinaus können sich Studenten auch selbst bewerben. Reicht das, um zu verhindern, dass Ungleichheiten reproduziert werden? Und wie effektiv sind die Stipendien eigentlich? Wir haben zwei Wissenschaftler befragt, die sich mit der Materie auskennen, und drei geförderte Studierende um Eindrücke gebeten.

Herr Helbig, Herr Spiegler, die Studienstiftung stand, wie auch andere Begabtenförderungswerke, in den vergangenen Jahren immer wieder in der Kritik, dass sie hauptsächlich schon privilegierte Studierende fördert. Was ist da dran?

Helbig: Eigentlich ist das nicht wirklich überraschend – zumindest, wenn man die Auswahlkriterien kennt, also sehr gute schulische Leistungen sowie soziales oder politisches Engagement. Da dominieren halt Akademikerkinder. Die Begabtenförderungswerke sind aber auch nicht dazu da, soziale Ungleichheiten abzubauen. Man kann aber fragen, was wollen wir da fördern, wollen wir uns die Begabtenförderung leisten, oder sollten wir die Mittel besser anders einsetzen?

Spiegler: Gerade bei der Studienstiftung war um 2010 herum, als die Zahlen zu der sozialen Zusammensetzung in den Begabtenförderungswerken veröffentlicht wurden und ein großer Aufschrei quer durch die Medien ging, der Anteil bestimmter sozioökonomischer Gruppen sehr gering. Daraufhin wurde evaluiert, ob es am Auswahlverfahren liegen könnte, und es hat sich gezeigt, dass es primär daran lag, wer zum Beispiel von den Schulen für die Förderung vorgeschlagen wird. Erstakademiker sind schon da unterrepräsentiert, denn sie haben auch bei den besten fünf Prozent der Abiturienten einen geringeren Anteil.

Nach diesem großen Aufschrei haben viele Förderwerke ihren Auswahlprozess immer wieder angepasst. Mit Erfolg?

Spiegler: Bei der Studienstiftung ist diesem Thema seitdem deutlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden, zum Beispiel durch die Einführung des Botschafterprogramms, wo Stipendiaten an Schulen über das Stipendium informieren, oder durch die bessere Schulung der Mitglieder von Auswahlkommissionen. 

Helbig: Die Möglichkeit, sich ohne Schulvorschlag selbst zu bewerben, hat man aus meiner Sicht aber nur eingeführt, weil man erkannt hat, dass an vielen Schulen überhaupt niemand empfohlen wurde. Die Selbstbewerbung ist vermutlich der am stärksten sozial spaltende Weg, weil Bewerber überhaupt erst mal von den Stipendien und ihrem Nutzen wissen müssen. Unabhängig davon ist es einfach generell schwer, Talente unabhängig von Noten zu erkennen.

Also fördern wir die, die mit dem System am besten klarkommen?

Spiegler: Da sind sicher auch Begabte dabei. Aber Leistung und Begabung haben nur eine bestimmte Schnittmenge.

Helbig: Und dieser Unterschied wird eben oft durch soziale Herkunft erklärt. Begabung bleibt bei Arbeiterkindern eher unentdeckt, wohingegen gerade solche, die jetzt nicht zu den Allerbegabtesten gehören, unter den Akademikern dann eher als solche erkannt werden.

Überall im Bildungsbereich scheint es an Geld zu fehlen, gleichzeitig fließen rund 340 Millionen jährlich in die Begabtenförderung. Ist das sinnvoll?

Spiegler: Die Ausgaben für Begabtenförderung sollten im Kontext aller Zuwendungen an Studierende betrachtet werden. Verglichen mit den mehreren Milliarden, die über das Kindergeld gleich verteilt und über Bafög bedarfsabhängig vergeben werden, sind die 340 Millionen für die Begabtenförderung ein kleiner Posten. Ich denke nicht, dass es verwerflich ist, auch einen kleinen Teil der Förderung leistungsabhängig zu gestalten.

Helbig: Man könnte aber etwa überlegen, ob eine Umschichtung vom Kindergeld zum bedarfsorientierten Bafög sinnvoll wäre. Die Begabtenförderungswerke sind für mich eher dahin gehend interessant, was sie den Stipendiaten zum Beispiel an ideeller Förderung bieten . . .

Spiegler: Das ist ein wichtiger Punkt. Auch wenn für einige Stipendiaten die finanzielle Förderung im Mittelpunkt steht, die meisten profitieren gern von den Sprachkursen, Sommerakademien, dem interdisziplinären Austausch und dem Netzwerk.

Helbig: Ich glaube, gerade das Netzwerk bietet viele Vorteile. Ein Stipendium ist auch ein positives Signal auf dem Arbeitsmarkt. Auffällig ist aber, dass es unglaublich wenig Forschung über die Wirksamkeit von Stipendien gibt. Solche Evaluationen, wie die auf der Website des BMBF, bei denen Stipendiaten rückblickend das Stipendium bewerten, kann man nicht als Wirkungsforschung verkaufen. Rein methodisch ist die Wirkung von Stipendien schwer zu untersuchen. Trotzdem zeigt die Studienlage, dass man es bis jetzt auch nicht genau wissen wollte. Wir haben im ganzen Bildungsbereich das riesengroße Problem, dass wir solche Wirkungsanalysen nicht institutionalisiert haben und sie auch nicht einfordern, um dann darauf basierend Geld zu verteilen. Wir haben von so vielen Dingen, nicht nur was Stipendien angeht, keinen blassen Schimmer. Da sind uns andere Länder um Lichtjahre voraus.

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Brauchen wir die Verantwortungselite überhaupt, die die Begabtenförderung heranbilden soll?

Spiegler: Den Begriff "Verantwortungselite" kann man sicher hinterfragen, aber insgesamt ist es für eine Gesellschaft natürlich am besten, wenn diejenigen auf zentralen Positionen auch verantwortlich handeln. Im Allgemeinen wird in unserer Gesellschaft ja die Förderung von Personen, die wir für hochleistungsfähig und begabt erachten, nicht grundsätzlich hinterfragt. In den Spitzensport fließen beispielsweise auch jährlich dreistellige Millionenbeträge.

Helbig: Ein schönes Beispiel. Die Frage ist immer, wie wir den Wert einschätzen und wie wir die Förderung rechtfertigen. Die Begabtenförderung wird über ihren vermeintlichen Beitrag, eine Verantwortungselite zu fördern, gerechtfertigt. Wir wissen aber überhaupt nicht, inwieweit sie diesen Zweck erfüllt. Wo sitzen die ehemaligen Stipendiaten überhaupt?

Spiegler: Da ist das ganze Spektrum vertreten. Das reicht von ein paar fragwürdigen politischen Akteuren bis hin zu vielen bekannten Namen aus Wissenschaft, Politik, Kunst und Wirtschaft.

Helbig: Aber wenn man offensichtlich nicht nachweisen kann, dass man hier eine Verantwortungselite heranzieht, dann muss man das Ganze schon ein Stück weit infrage stellen.

Spiegler: Es bringt natürlich nichts, Einzelfälle herauszupicken. Wir dürfen die Rolle der Förderwerke auch nicht überschätzen. Für mich wäre es bereits ein legitimer Anspruch für ein Förderwerk zu sagen, wir fördern die Leistungsstarken, die höchstwahrscheinlich auf verantwortlichen Positionen landen werden. Und deswegen ist es unser Auftrag als Förderwerk, sie darauf vorzubereiten. Wie auch immer man den Erfolg dessen messen will.

Helbig: Aber es gibt an dieser Stelle ja wirklich keinerlei empirischen Beweis, dass durch die Förderung die gesellschaftliche Verantwortungselite verbessert wird.

Spiegler: Ja, das stimmt.

Überwiegt denn nun der positive oder der negative Effekt der Begabtenförderung?

Helbig: Das Schöne ist ja, wir haben von beidem keine Ahnung. Wir wissen weder genug über die mögliche Reproduktion von Ungleichheiten noch über die Wirkung von Stipendien. Dementsprechend muss hier in Forschung investiert werden. Und wenn wir davon ausgehen, dass wir eine Mittelkonkurrenz haben, dann ist natürlich auch die Frage, ob das Geld für die Begabtenförderung nicht bei der frühkindlichen Bildung besser aufgehoben wäre, um Ungleichheiten, die unser System von Beginn an produziert, früh entgegenzuwirken.

Spiegler: Die Begabtenförderungswerke stehen am Ende einer Kette von Ungleichheitsmechanismen. Trotzdem können sie zum Beispiel über ihre Auswahlverfahren Einfluss nehmen. Selbst wenn man sich darauf einigt, dass sogenannte Begabte gefördert werden sollen, ist es immer noch eine Herausforderung, sie im Schulsystem zuverlässig zu entdecken.

Helbig: Auch aufgrund der Auswahlkriterien gibt es bei der Studienstiftung beispielsweise überdurchschnittlich viele Mediziner. Auch da könnte man überlegen, ob man statt der besten Abiturienten nicht eher die besten aus allen Studienfächern auswählen sollte. Die Promotionsstipendien der Förderwerke würde ich bei all meiner Kritik übrigens erst mal ausklammern. Die müssten noch mal getrennt betrachtet werden, weil dort die Bedingungen andere sind.

Die 13 Begabtenförderungswerke

Die politischen: Konrad-Adenauer-Stiftung (CDU), Friedrich-Ebert-Stiftung (SPD), Heinrich-Böll-Stiftung (Die Grünen), Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (FDP), Hanns-Seidel-Stiftung (CSU), Rosa Luxemburg Stiftung (Die Linke)

Die religiösen: Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (jüdisch), Evangelisches Studienwerk Villigst (evangelisch), Avicenna-Studienwerk (muslimisch), Cusanuswerk - Bischöfliche Studienförderung (katholisch)

Weitere: Hans Böckler Stiftung (Deutscher Gewerkschaftsbund), Stiftung der Deutschen Wirtschaft (arbeitgebernah), Studienstiftung des deutschen Volkes (das größte der Begabtenförderungswerke, weder parteinah noch religiös)

Inspirierender Austausch und Zeit fürs Ehrenamt

"Ich empfinde es als sehr großes Privileg, gefördert zu werden. Durch das Stipendium habe ich mehr Zeit, mich ehrenamtlich zu engagieren. Es erleichtert mir das Studium mit Kind und der Austausch mit anderen Stipendiaten ist inspirierend und bekräftigt mich in dem Wunsch, etwas zurückzugeben. Als Sprecherin der Thüringer Stipendiaten habe ich unter anderem an einer Arbeitsgruppe zum Thema Bildungsgerechtigkeit teilgenommen. Ich sehe durchaus die Gefahr, dass die Begabtenförderungswerke Bildungsungleichheiten verstärken, wenn sie nicht besser darin werden, diversere Personen zu finden und zu fördern. Da muss auf jeden Fall etwas passieren. Das Botschafterprogramm, bei dem Stipendiaten an Schulen Werbung für das Stipendium machen, ist schon ein guter Ansatz. Ich denke, es ist immer noch ein strukturelles Problem, dass gerade Schulen im Osten und in kleineren Städten nicht viel von Stipendien wissen. Ich musste meinen Schulleiter selbst aufmerksam machen. 

Innerhalb der Stiftung wünsche ich mir ein aktiveres Miteinander und dass eine Kultur des Zurückgebens stärker gefördert wird. Es gibt schon auch diejenigen, die primär an der finanziellen Förderung interessiert sind. In Diskussionen mit denen, die aktiv teilnehmen, haben wir uns oft mit der Frage befasst, wie der Zugang zu Stipendien vereinfacht werden könnte. Die Grundsatzfrage, ob die Gelder nicht zugunsten anderer Bildungsbereiche umverteilt werden sollten, haben wir uns bisher nicht gestellt. Da es überall im Bildungssektor an Geld fehlt, finde ich diese Frage aber durchaus spannend."

Johanna-Sophie Leonhardi ist 25 Jahre alt, studiert Humanmedizin und ist seit dem Wintersemester 2017 in der Studienstiftung des deutschen Volkes.

In der Studienstiftung hat sich sehr viel getan

"Ich habe eher zufällig im Studium durch eine Kommilitonin erfahren, dass es die Studienstiftung gibt und mich dann im ersten Semester beworben. Ich nehme an, dass meine Schule damals einfach die zwei Abiturbesten vorgeschlagen hat. Mein Eindruck ist, dass vor allem bereits Privilegierte von Stipendien wissen und sich bewerben. Was Diversität betrifft, ist noch viel Luft nach oben. Aber in den vergangenen Jahren hat sich zumindest in der Studienstiftung sehr viel getan – sowohl was das Bewusstsein als auch was das Engagement betrifft. Auch viele Geförderte und Ehemalige engagieren sich dafür – beispielsweise im Botschafterprogramm, oder in Auswahlkomitees.

Mit einer Freundin sprach ich mal darüber, ob es nicht sinnvoller wäre, insbesondere die zu fördern, die es im Bildungssystem schwerer haben. Sie meinte dann, dass es vermutlich gesellschaftlich eher akzeptiert wird, viel Geld in die zu investieren, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dann auch viel leisten. Das Thema ist total schwierig und ich habe da auch noch keine Antworten gefunden, außer, dass auf mehr Diversität geachtet werden sollte, um gerade weniger Privilegierten ein Stipendium zu ermöglichen. Ich kann nur sagen, dass ich mich für mehr soziale Gerechtigkeit einsetzen möchte, um etwas von dem Privileg, was ich durch die Förderung genießen durfte, zurückgeben zu können."

Die Stipendiatin ist 26 Jahre alt, studierte im Master International Affairs und wurde vom Wintersemester 2016 bis zum Sommersemester 2023 von der Studienstiftung gefördert. Ihren wirklichen Namen möchte sie nicht in der Zeitung lesen.

Viele benachteiligte Schüler schaffen kein gutes Abi

"In meiner Schulklasse hatte jeder Zweite einen Migrationshintergrund. Im Studium und in der Studienstiftung sah das ganz anders aus. Ich habe die deutsche und die polnische Staatsbürgerschaft, meine Eltern sind getrennt und haben keinen Uniabschluss. Wir hatten nicht viel Geld, aber genug, um Ausgaben rund um die Schule zu finanzieren. Wegen meines Engagements in der Schülervertretung und bei der freiwilligen Feuerwehr und meines Abischnitts von 1,2 schlug mich meine Schule für das Stipendium vor. 

Viele, die einen Migrationshintergrund haben oder aufgrund anderer Merkmale marginalisiert oder benachteiligt sind, qualifizieren sich gar nicht erst für das Auswahlverfahren, weil sie wegen Sprachproblemen oder fehlender Unterstützung von zu Hause keinen guten Abischnitt schaffen oder keine Zeit für ein Ehrenamt hatten. Das nimmt die Stipendiengeber aber nicht aus der Verantwortung, diese Startbedingungen mitzudenken und sich zu bemühen, nicht nur die auszuwählen, die gut mit dem System Schule zurechtkommen. Mit dem Gedanken, dass wir eine Verantwortungselite sein sollen, kann ich mich nicht so recht anfreunden. Wir fördern schon seit Jahrzehnten diese vermeintlichen Verantwortungseliten, die es aber nicht geschafft haben, für mehr Chancengleichheit – gerade im Bildungsbereich – zu sorgen. Im Gegenteil, es wird eher ungleicher. Da könnte man sich schon fragen, inwieweit es was bringt, so eine kleine Gruppe zu fördern, oder ob es nicht wichtiger wäre, überall in der Gesellschaft dieses Verantwortungsbewusstsein zu stärken."

Der Stipendiat ist 22 Jahre alt, studiert Internationale Beziehungen und Sozialwissenschaften und ist seit 2020 in der Studienstiftung. Er möchte anonym bleiben.

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