Quatsch-Jura oder ernstzunehmende Forschung?: Wie eine Jura-Dissertation über Harry Potter die Rechtswissenschaft aufmischt

Autor*innen
Maximilian Benda
Zwei Hände, in einer Hand ein Stab, der Konfetti wirbeln lässt

Dr. Jannina Schäffer ist nicht nur Juristin, sondern auch großer Harry Potter-Fan. In ihrer Dissertation entschied sich Schäffer, beide Interessen zu verbinden und sich mit dem Rechtssystem in den Harry Potter-Büchern zu beschäftigt. Das Thema brachte ihr nicht nur Lob ein. Wir haben mit ihr gesprochen über die Intension zum Thema, den Prozess des Schreibens, die Herausforderungen der externen Promotion und den Umgang mit Kritik an der eigenen Arbeit. 

Dr. Jannina Schäffer steht vor einer Backsteinwand und hält das rötliche Cover ihrer Dissertation in die Kamera.

Dr. Jannina Schäffer studierte in Tübingen Jura und absolvierte in Stuttgart ihr Rechtsreferendariat. Nach zwei erfolgreichen juristischen Staatsexamina entschloss sie sich, zu promovieren. Während der Promotion arbeitete sie als persönliche Referentin einer Abgeordneten im Landtag von Baden-Württemberg, um sich die Promotion zu finanzieren. Inzwischen ist Jannina Schäffer bei einem großen juristischen Repetitorium tätig.

Frau Dr. Schäffer, wie sind Sie auf das Thema Ihrer Promotion gekommen?

Das ist jetzt natürlich das absolute Outing, dürfte aber offensichtlich sein: Ich bin Harry Potter Fan. Als Kind und Jugendliche haben mich die Bücher fasziniert und vermutlich auch geholfen, meine Englischnote zu retten. Da ich die Bücher aller paar Jahre lese, ist mir erstmals im Studium aufgefallen, was juristisch alles in Harry Potter passiert und dass das ein oder andere doch ein Geschmäckle hat. Vieles, was an Prozessen und strafrechtlichen Normen vorkommt, ist im Vergleich zu unserem Recht problematisch. Ab Band drei geht das dann richtig los. Als Kind habe ich wahrgenommen, dass Dolores Umbridge ein böser Mensch ist und dass Sirius Black zu Unrecht im Gefängnis sitzt, aber die tatsächliche Tragweite ist mir erst später klargeworden. Das Thema hat mich nicht losgelassen. Leider wollte mich niemand in Tübingen mit diesem Promotionsthema betreuen. So musste ich mir eine Alternative überlegen und habe extern promoviert. Frau Professor Dr. Anja Schiemann von der Hochschule der Polizei in Münster war meine Doktormutter.

Stichwort externe Promotion: Was hat es damit auf sich?

Eigentlich wollte ich ganz klassisch in Tübingen promovieren. Bei einer klassischen Promotion ist man in der Regel auf einer 50 Prozent-Stelle als Doktorand am Lehrstuhl angestellt und kann sich den Rest der Zeit der Promotion widmen. Das hat bei mir nicht geklappt. So musste ich mir eine Alternative überlegen und habe es extern probiert. Das geht in der Regel nur mit überdurchschnittlichen Leistungen im Staatsexamen. Ich habe mich deutschlandweit initiativ beworben und Professor:innen gesucht, die in irgendeiner Form etwas mit dem Thema meiner Arbeit zu tun haben. Meine Doktormutter hat zwar keinen Lehrstuhl in Law and Literature, hat aber selber in dem Bereich promoviert. Der Vorteil an der externen Promotion ist, dass man nicht am Lehrstuhl tätig sein muss, also örtlich ungebunden ist. Man hat aber auch keine 50-Prozent-Stelle, muss die Finanzierung also anderweitig sicherstellen.

Hat man Sie mit dem Thema mit offenen Armen empfangen? Wie waren die Reaktionen auf Ihre Bewerbungen?

Die Herausforderung war, jemanden zu finden, der in irgendeiner Form etwas mit dem Thema zu tun hat – und das ist in Deutschland nicht einfach. Meine Doktormutter war positiv und aufgeschlossen zum Thema Law and Literature. Über den Harry Potter-Bezug wollte sie aber von Anfang an nochmal sprechen. Sie hat mich zum Gespräch eingeladen und ich sollte ein Exposé verfassen. Ziel war, sie davon zu überzeugen, dass Harry Potter keine Schrott-Literatur ist und das Thema kein Quatsch-Jura. Das habe ich geschafft. Meine Doktormutter hat mir auch immer genau auf die Finger geschaut, dass ich keine Harry Potter-Fanfiction schreibe, sondern alles im juristischen Kontext betrachtet und eingeordnet wird.

In Ihrer Arbeit nehmen Sie direkten Bezug auf die NS-Zeit. Lag dieser Vergleich für Sie auf der Hand?

Mich hat sehr gewundert, dass dieser Vergleich zu viel Kritik an der Arbeit geführt hat. Der NS-Vergleich kommt nicht von mir, sondern von J. K. Rowling, die diese Parallele selbst in Interviews erwähnt. Sie hat selber gesagt, dass sie in Lord Voldemort Hitler sieht. Außerdem gibt es bereits viele wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit genau diesem Vergleich beschäftigen – allerdings meist aus literatur- oder geisteswissenschaftlicher Perspektive. Das Rechtssystem in Harry Potter hat sich weltweit hingegen fast noch niemand angeguckt. Da gibt es nur zwei oder drei kurze englischsprachige Aufsätze. Dieser Teil der Arbeit stammt also originär von mir.

Das Rechtssystem in Harry Potter ist unfair, nicht rechtsstaatlich und diskriminierend.

Wie würden Sie nach Beendigung Ihrer Arbeit das Rechtssystem in Harry Potter kurz beschreiben?

Ein Wort wäre unfair. Das zweite Wort wäre nicht rechtsstaatlich. Das dritte Wort wäre vermutlich diskriminierend. Und genau das sind eben auch die Punkte, warum das Rechtssystem in Harry Potter deutlich näher am NS-Recht dran ist, als an unserem heutigen Recht. Die übergeordnete Message ist aber ein Gerechtigkeitsgedanke: Am Ende der Bücher steht ein Happy End und gerade für Kinder und Jugendliche ist es wichtig zu wissen, dass Unrecht nicht belohnt, sondern bestraft wird.

Law and Literature

Ein wissenschaftlicher Bereich, der sich auf die Verbindung von Recht und Literatur konzentriert. Er teilt sich in die Unterbereiche Recht in der Literatur (law in literature) und Recht als Literatur (law as literature).

Law in literature beschäftigt sich vor allem mit rechtlichen Motiven in der Literatur sowie mit von der Literatur aufgegriffenen realen Rechtsfällen. Law as literature betrachtet juristische Texte unter literarischen Gesichtspunkten.

Wir haben schon kurz über die Resonanz auf Ihre Arbeit gesprochen. Haben Sie mit der Kritik auf X und auch in der e-fellows.net community gerechnet?

Nach der Veröffentlichung war die Resonanz positiv, denn der Shitstorm hat vor der Veröffentlichung stattgefunden. Bedeutet, die Leute auf Twitter (X, Anm. d. Red.) haben die Arbeit noch gar nicht gelesen, als sie sie kritisiert haben. Ich glaube, das hilft ganz gut, um die Kommentare auf Twitter einzuordnen. Leider waren auch Juristen dabei, das hat mich ein bisschen enttäuscht. Abgesehen davon war die Resonanz wirklich positiv: Gerade auf LinkedIn oder auch in meinem Bekanntenkreis haben sich wirklich viele dafür interessiert. Mir haben auch viele Leute geschrieben, dass sie es kreativ finden oder dass sie jetzt endlich mal einen neuen Gedanken hatten. Womit ich nicht gerechnet habe, ist der Vorwurf des „Quatsch-Jura“ oder mit dem Vorwurf, ich würde den NS-Staat verharmlosen. Dass es einzelne Leute geben wird, die mit den Augen rollen, das war mir von Anfang an klar. Das war einfach dem Thema geschuldet.

Wie erklären Sie sich den Vorwurf „Quatsch-Jura“?

Zum einen vermute ich, dass es viele konservative Juristen gibt, die mit Fantasie und Kreativität nichts anfangen können und die auch sehr elitär mit Scheuklappen auf Themen wie Law and Literature reagieren. Und wenn, dann darf man sich nur mit seriösen Klassikern, wie Kafkas „Der Prozess“ beschäftigen. Harry Potter war also sicher ein Hauptgrund für die Kritik. Hinzu kommt, dass Law and Literature in Deutschland kein verbreitetes Forschungsfeld ist.

Warum ist das so? Glauben Sie, Law and Literature wird künftig stärker beforscht?

Es wird niemals zum Prüfungsstoff im Staatsexamen. Es wird niemals was, was praxisrelevant in Behörden oder in Gerichten angewendet wird. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es in den nächsten Jahren schon insgesamt anerkannter wird. Das hat man auch in den USA gemerkt, da hat es auch eine Weile gebraucht, bis es sich durchgesetzt hat. Aber Law and Literature wird wahrscheinlich nie so wie andere juristische Themen anerkannt sein.

Am meisten profitiere tatsächlich vom Prozess der Dissertation: Wie formuliere ich gut? Wie entwickle ich einen roten Faden? Wie schreibe ich so, dass es Menschen verstehen?

Profitieren Sie nach dem Schreiben ihrer Promotion auch beruflich von dem Thema?

Am meisten profitiere tatsächlich vom Prozess der Dissertation: Wie formuliere ich gut? Wie entwickle ich einen roten Faden? Wie schreibe ich so, dass es Menschen verstehen? Da habe ich viel dazu gelernt. Zusätzlich habe ich unheimlich viel über den NS-Staat gelernt und auch das Recht, was da gegolten hat. Das kam im Jura-Studium oft zu kurz. Das Thema Harry Potter wird mir beruflich jetzt nicht wirklich helfen, weil es dafür keinen Markt gibt.

Wurde die Arbeit auch über ihre Branche hinaus beachtet? Haben Sie es also geschafft, so zu schreiben, „dass es Menschen verstehen“?

Der Vorteil am Internet ist, dass ich weiß, dass sie gelesen wird. In Harry Potter-Foren wird sich genauso über die Arbeit ausgetauscht, wie in meinem Bekanntenkreis – auch von denjenigen, die nichts mit Jura am Hut haben. Und ich bekomme auch Feedback, dass durch die Arbeit juristische Sachverhalte verstanden werden, weil sie in einem praktischen, bekannten Kontext eingebunden wurden. Das war nicht meine Intension beim Schreiben, freut mich aber besonders.

Nicht das langweiligste Thema nehmen und auch nichts vom Professor aufzwingen lassen. Wenn das Thema interessant ist, macht das vieles leichter.

Was hat Sie während Ihrer Promotion motiviert? Welche Tipps haben Sie für alle diejenigen, die mit dem Gedanken einer Promotion spielen?

Tipp Nummer eins: Wenn man Lesen und Schreiben hasst, promoviert bitte nicht. Es wird einfach nur eine absolut schreckliche Qual sein. Zum Teil sitzt man einen Tag lang am Schreibtisch und liest, um dann am Abend einen Satz zusammenzufassen, mit zwei Fußnoten. Wichtig ist auch, dass man eigenständig arbeiten kann. Niemand steht hinter einem, tippt auf die Schulter und sagt: „Guten Morgen, du musst jetzt zehn Seiten Dissertation schreiben.“ Tipp Nummer zwei hat bei mir nicht so gut geklappt wegen Corona: Menschen suchen, die auch promovieren. Es gibt tolle Doktoranden-Kolloquien, Treffen und Meetings, teilweise auch online, wo man sich austauschen kann. Tipp drei: Nicht das langweiligste Thema nehmen und auch nichts vom Professor aufzwingen lassen. Wenn das Thema interessant ist, macht das vieles leichter.

Und zur Not dann auch den Weg der externen Promotion wählen, wenn man mit dem Thema sonst nicht unterkommt?

Dazu kann ich nur raten, wenn man es finanziert bekommt und die Doppelbelastung schafft. Wenn man nach dem ersten oder zweiten Examen promoviert, hat man ja schon einen Abschluss und verdient in der Regel schon Geld. Dann kann man auch mit einer 50 Prozent-Stelle überleben und promovieren. Ich kenne auch Leute, die 100 Prozent gearbeitet haben, aber dann dauert die Promotion halt länger. Das muss jeder für sich entscheiden.

Würden Sie ihr Promotionsthema gerne weiter erforschen und würden Sie anderen dazu raten, im Bereich Law and Literature zu promovieren?

Was meine persönliche Anschlussforschung betrifft, bin ich pessimistisch, denn niemand auf dieser Welt wird mir diese Anschlussforschung finanzieren. Außer ich gehe in die USA und finde einen völlig begeisterten Literaturprofessor, der mir das finanziert. Ich werde das Thema natürlich in meiner Freizeit weiter behandeln, das geht auch wunderbar als Hobby. Ich habe auch schon Einladungen auf einen Kongress und für Vorträge an einer Uni bekommen. Das heißt, in dem Rahmen kann ich mich weiter mit dem Thema befassen. Der Themenbereich an sich ist toll und vielfältig. Da kann man sich wunderbar austoben und kreativ sein. Das Wichtigste: Es gibt noch unglaublich viele Forschungslücken, weil sich damit noch niemand beschäftigt hat. Das heißt, wenn man gerne mal so eine Mondlandung machen will und der erste Mensch sein möchte, der sich mit einem Thema beschäftigt, dann wählt ein Law and Literature-Thema. Wenn man aber promovieren will, um tatsächlich einen beruflichen Vorteil zu haben, weil man z. B. in einer Großkanzlei für Arbeitsrecht arbeiten möchte, sollte man wahrscheinlich eher zum Thema Arbeitsrecht promovieren. Das ist dann einfach die persönliche Abwägung, aus welcher Motivation heraus man promoviert.

Zum Schluss müssen Sie sich nochmal entscheiden:

Harry Potter-Bücher oder Harry Potter-Filme?

Bücher. Immer.

Gryffindor oder Slytherin?

Ravenclaw.

Butterbier oder Kürbissaft?

Kürbissaft.

Zauberstab oder BGB.

Zauberstab. Und damit zaubere ich mir dann ein BGB.

Unsichtbarkeitsumhang oder Zeitumkehrer?

Boah, ist das fies. Zeitumkehrer, wenn man ihn benutzen darf, ohne diese ganzen negativen Effekte zu haben und die Zeitschiene nicht durcheinander bringt oder die eigene Geburt verhindert.

Vielen Dank für das Interview, Frau Dr. Schäffer.

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